TUHH Spektrum Oktober 2016 | Page 23

Foto : Johannes Arlt
Wie kommt also der Generator vom Hersteller in China nach Europa , wenn der Reeder das Schiff nicht halbvoll auf die Reise schicken will ? Das Problem stellte sich vor einigen Jahren auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise ; mancher Abnehmer drohte , daran zu verzweifeln . Der Logistiker rückt die randlose Brille zurecht . „ Supply Chain Risk Management “, sagt er und skizziert ein paar Möglichkeiten , ganz generell , wie sich die Risiken in Nachschubketten unter Kontrolle halten lassen : Luftfracht wäre eine Alternative , schlägt er vor ; der Gewinn wäre hin , nun ja , aber das Geschäft könnte weiterlaufen . Schlau auch , wer sich nicht von einem einzelnen Lieferanten abhängig macht , wenn Wohl und Wehe einer ganzen Wertschöpfungskette auf dem Spiel stehen . Und wie wäre es , einen Ersatz-Generator bereit zu halten , auch wenn ungenutzter Bestand immer Kosten verursacht ? „ Ein Logistiker ist ein Dienstleister . Er muss sich auf andere einstellen können “, fasst Kersten zusammen .
Solche Geschichten begegnen ihm jeden Tag . Manchmal geht es um fundamentale Probleme einer alle Grenzen und Zeitzonen überspringenden Ökonomie – etwa , wenn Produktionsstätten in Regionen verlegt werden , in denen nicht nur die kirchlichen Feiertage , sondern auch die Regeln des Alltags und der Arbeit ganz anderen Gesetzen folgen . Psychologie hilft , die Kenntnis fremder Sprachen und Kulturen ebenso . Manchmal auch ist er selbst ein Protagonist – etwa , wenn ein Taxifahrer in Frankfurt droht , seinen Fahrgast mitten in Sachsenhausen auf die Straße zu setzen , nur weil die berühmte Äbbelwoi-Stube nicht im Navigationssystem verzeichnet ist . Gut , wenn dann einer im Fond sitzt , der sich auf die Lösung solcher Probleme versteht . Logistik , noch einmal , umfasst alle Strategien und Methoden , um wichtige Dinge von A nach B zu bringen .
Auch die Lackschuhe , das Menü , das eilige Medikament für eine Nordseeinsel . 4.0 bedeutet knapp : Die halbe Welt wäre neu zu erfinden . Digitale Netzwerke und intelligente Maschinen haben die Voraussetzungen dafür definiert ; das Rennen um Ideen für die Praxis ist eröffnet . Kürzlich habe er selbst so einen Quantensprung miterlebt , berichtet Kersten . Da kündigte der Vertreter eines Versandhauses für Abendkleider und die passenden Schuhe dazu an , seine Produkte künftig nicht mehr eine volle , sondern nur noch eine halbe Stunde nach der Order am Bildschirm ausliefern zu wollen .
Dem Logistiker wurde klar : Damit muss auch seine Zunft in neue Dimensionen vorrücken . Muss vielleicht nicht mehr nur einen Fahrradkurier auf den Weg schicken , um das bestellte Produkt an sein Ziel zu bringen , sondern Drohnen und Paketroboter starten lassen . Muss , streng genommen , ganz grundlegend umdenken – Wege neu organisieren , nicht mehr zu Linien , sondern zu Netzen , das zentrale Auslieferungslager durch dezentrale Systeme ersetzen , die Verbraucher schon in die Planung einbeziehen und überhaupt : die Logistik zu einem Zentrum der Kommunikation machen . Alles in Echtzeit , versteht sich .
An seinem Institut bringt Kersten immer wieder Vertreter der Wissenschaft und Logistik-Dienstleister aus der Praxis miteinander ins Gespräch . „ Da sind schon ein paar tolle Geschäftsideen aus der Taufe gehoben worden “, sagt er . Logistik schafft Mehrwert . Die digitale Transformation seiner Disziplin bestimmt seine Arbeit als Forscher und als Lehrer . Darüber hinaus engagiert er sich in der Dialogplattform „ Industrie 4.0 “ und baut gemeinsam mit Handels- und Handwerkskammer und gefördert durch den Bundeswirtschaftsminister ein „ Kompetenzzentrum Mittelstand 4.0 “ für Hamburg auf . Das Ziel ist , auch kleineren Unternehmen den Schritt in eine vernetzte Zukunft zu ermöglichen . Denn allen ist klar : Die Änderungen durch digitale Technik haben fundamentale Konsequenzen auf die Abläufe von Produktion und Verteilung , aber auch auf die Strukturen des Unternehmens selbst – auf Wissens-Management , auf Kommunikationswege und Hierarchien und auf eine Kultur , die Ideen fördert und ihnen Raum schafft , sich zu entfalten .
Schon entwickelt Airbus mit Wissenschaftlern aus dem Laserzentrum der TU Flugzeugbauteile , die gleich in der Montagehalle aus dem Computer gedruckt werden . Die „ Hamburg Open Online University “ überwindet die Enge des Hörsaals und verlegt das akademische Studium ins weltweite Netz . Und Bürgermeister Olaf Scholz hat die neue Technik als Motto für die ganze Stadt ausgegeben . Verwaltung , Mobilität , Energie : Alles , was Nutzen stiftend digitalisiert werden kann – das möge auch digitalisiert werden .
So viel Aufbruch ! Manchmal kommt der Wissenschaftler ins Grübeln : Wo bleibt die Logistik , wenn sich der Warenverkehr immer mehr ins Internet verlagert ? Musik oder die Zeitung waren die Vorboten . Könnte sein , dass irgendwann auch die Schuhe als Datensatz auf den Weg gebracht und an einem 3-D-Drucker materialisiert werden . Ist das eine Bedrohung ? „ Ganz bestimmt markiert die Digitalisierung einen echten Paradigmenwechsel “, sagt Kersten . „ Die Potenziale sind enorm . Deshalb muss die Logistik offen bleiben , muss Innovationen aufgreifen , Probleme voraussehen und sie rechtzeitig lösen . Das ist unser Job . Das können wir .“ Und wie es weitergeht ? Da bleibt er locker : „ Wenn Sie einen Stuhl oder einen neuen Fernseher brauchen , dann werden Sie auch in Zukunft einen Stuhl oder einen Fernseher geliefert bekommen .“