Sonntagsblatt 6/2016 | Page 4

dend, ob das „Generationsgedächtnis” heutiger Jugendlicher durch positive oder negative Erfahrungen geprägt wird. Das liegt in unserer Verantwortung: in der Verantwortung der Eltern, der Pädagogen, der Minderheitenpolitiker, Journalisten, der Seelsorger und aller Akteure der Organisationen und Institutionen unserer Nationalität.”* Darin fällt vor allem der Begriff „Generationsgedächtnis” auf, dessen Bedeutung von der Wissenschaft folgendermaßen erklärt wird: „Der Begriff kollektives Gedächtnis bezeichnet eine gemeinsame (= kollektive) Gedächtnisleistung einer Gruppe von Menschen. So wie jedes Individuum situativ zu einem individuellen Gedächtnis fähig ist, wird einer Gruppe von Menschen (Volk oder Menschheit) eine gemein- same Gedächtnisleistung unterstellt. Das kollektive Gedächtnis wird als Rahmen einer solchen Gruppe verstanden: Es bildet die Basis für grup- penspezifisches Verhalten zwischen ihren Angehörigen, da es dem Ein - zel nen ermöglicht, Gemeinsamkeiten vorzustellen. Das kollektive Ge - dächtnis nimmt mit Blick auf die kulturelle Vergangenheit Bezug auf die gegenwärtigen sozialen und kulturellen Verhältnisse, wirkt individuell auf eine Gruppe von Menschen und tradiert gemeinsames Wissen.” Das Konzept des kollektiven Gedächtnisses stammt von dem französischen Philosophen und Soziologen Maurice Halbwachs († 1945), der diesen Begriff in den 1920er Jahren einführte. Es wird in jüngerer Zeit in mehreren Disziplinen, darunter auch in der Ge schichtswissenschaft, als Analysekategorie verwendet. Beim kol lektiven Gedächtnis wird zwischen dem kommunikativen Gedächtnis und dem kulturellen Gedächtnis unterschieden. Das kommunikative Gedächtnis liefert mündlich weitergegebene Er - fahrungen und Traditionen; das aber nur in einem Zeitraum von ca. drei Generationen nach dem Zeitpunkt des Geschehens. Diese Form des Gedächtnisses ist somit an Menschen gebunden, weil es von der Weitererzählung lebt. Im Gegensatz dazu steht das kulturelle Gedächtnis, welches nicht an Personen gebunden ist. Hierbei werden Erinnerungen vielmehr niedergeschrieben und somit für die Nachwelt konserviert, auch über die dritte Ge - neration nach dem Ereignis hinaus. Zum Beispiel zählen vergan- gene Ereignisse, die in Schriften für Bibliotheken verfasst wurden, zum kulturellen Gedächtnis. Der Heidelberger Gedächtnisforscher Jan Assmann geht in sei- nem Konzept des kulturellen Gedächtnisses von einer anderen Frage aus: Wie gelingt es Gesellschaften, oft über Jahrhunderte hinweg ein „kollektivgeteiltes Wissen” über die Vergangenheit zu tradieren? Die Antwort liegt in der kulturellen Formung, der Ritualisierung und Institutionalisierung gesellschaftlicher Erin - nerung: Die Bewahrung eines „kollektiv geteilten Wissens”, seine „Vererbbarkeit im kulturell institutionalisierten Erbgang einer Gesellschaft” bedarf der kontinuierlichen Pflege. Assmanns Definition von Gedächtnis als „kollektiv geteiltes Wissen”, aus dem eine Gruppe „ein Bewusstsein ihrer Einheit und Eigenart bezieht”, lenkt den Blick auf die Rolle der Gesellschaft ebenso wie auf die Dynamiken im Feld der Erinnerung – sowohl synchron, wenn es um die Formulierung und Durchsetzung eines bestimmten Wissens über die Vergangenheit geht, als auch dia- chron, im Hinblick auf Prozesse der Tradierung, Weitergabe und Veränderung dieses Wissensvorrats. Das Generationsgedächtnis ist hiermit das Übertragen des kol- lektiven Gedächtnisses über mehrere Generationen hinweg zur Bewahrung und Stärkung der Identität einer Volksgruppe oder eines Volkes, wie es auch Frau Gerner in ihrer Festrede behaup- tet: „Zum Zweck der Bewahrung und Stärkung der Identität der Ungarndeutschen wird der Beherrschung und dem Gebrauch der deut- schen Sprache eine wichtige Rolle beigemessen.” D.h. also, dass auch die angestammte Muttersprache einer Volksgruppe von Generation zu Generation übertragen werden muss, was von vitaler Bedeutung für die Zukunft einer ethnischen Minderheit ist. 4 Natürlich ist auch die Rolle de