Herr Helmut Brechtel ist ehrenamtlicher Domaufseher in Riga
und biet uns einen sehr interessanten Stadtrundgang an. So erle-
ben wir eine locker Stadtführung durch Riga, bei der auffällig oft
von Einheimischen begrüßt werden. Seit vielen Jahren verbringt
Helmut den Sommer in Lettland. Seine Vorfahren stammen von
hier und das ist der Grund, weshalb es den junggebliebenen
Rentner, der im Großraum Hannover wohnt, hierher zieht. Riga
ist seine Liebe, hier praktiziert er das lebendige Miteinander der
Kulturen. Herr Brechtel verständigt sich in deutscher Sprache,
spricht auch ein bisschen Englisch und Lettisch. „Viele Letten ver-
stehen gut Deutsch, können es aber nicht sprechen. So klappt die
Verständigung gut”, sagt er uns. Während wir durch die Stadt
schlendern, bekommen wir immer wieder seine persönliche Aus -
strahlung zu spüren. Letten winken uns zu, grüßen auf Deutsch,
zwei Blechbläsermusikanten spielen deutsche Volkslieder wie:
„Ännchen von Tharau” und „Im tiefsten Wiesengrunde”. Ein
Mann verkauft uns für eine Spende Karten mit den schönsten
Jugendstilbauten der Stadt. In den Kirchen kennen viele der Auf -
seher „unseren Helmut”. Sie alle wissen, dass Helmut mit Touris -
ten unterwegs ist und ihnen etwas vom Herzen dieser Stadt nah-
ebringt. Das ist ihm voll gelungen, wofür wir ihm sehr dankbar
sind.
Deutscher Verein in Siluté (Heydekrug) im früheren
Memelland
Wir reisen weiter nach LITAUEN ins frühere Memelland. Das
Memelland ist der nördlich der Memel gelegene Teil des früheren
Ostpreußens, der infolge des Versailler Vertrags (1919) nach einer
dreijährigen Verwaltung durch Frankreich im Jahr 1923 von Li -
tauen annektiert wurde. Wir nehmen die Landstraße von Silalé
nach Siluté (deutsch: Heydekrug). Gleich nach der früheren
deutsch/russischen bzw. deutsch/litauischen Grenze ändert sich
der Baustil. Fest gebaute Ziegelhäuser oft mit Rundbogen fens -
tern, Jugendstilhäuser flankieren die Straßen in Heydekrug. Dort
wohnen wir im Haus „Heide” des Deutschen Vereins.
Der Deutsche Verein in Heydekrug wurde im Jahr 1992 gegrün-
det. Damals zählte der Verein etwa 1 200 Mitglieder, derzeit sind
es noch etwa 400, so die Vorsitzende Gerlinda Stunguriene. Der
Deutsche Verein beklagt die fehlende Unterstützung durch
Deutschland seit dem EU-Beitritt Litauens im Jahr 2004, aber
auch durch Litauen, das sich für deutsche Vereine nicht verant-
wortlich fühlt. Die Argumente der litauischen Seite verweisen auf
die in Deutschland lebenden gut situierten Memelländer. Der
starke Rückgang der Vereinsmitglieder liegt vor allem am
Wegsterben der „Erlebnisgeneration”. Nachwuchs ist rar, weil die
jüngere Generation im Ausland Arbeit findet oder sich mehr als
Litauer betrachtet. „Die deutsche Kultur im Memelland hat einen
schweren Stand”, sagt uns Gerlinda. „Die Älteren müssen mit der
Jugend mangels Verständigung oft litauisch sprechen”.
Gerlinda spricht die zweisprachig litauisch-englische Infotafel
im alten Evangelischen Friedhof an. Dieser wurde während der
Sowjetzeit zerstört. Wir vermissen hier die deutsche Erläuterung
auf der lnfotafel. Wir waren bei mehreren Institutionen im Me -
mel land wie Touristinformation, Stadtverwaltung, Bibliothek und
wurden freundlich zumeist auf Englisch beraten.
Das im Jahr 2001 mit Hilfe von Spendern aus Deutschland und
des Rotary Clubs eingeweihte Denkmal für Dr. Hugo Scheu
Eindruck vom Sommerrest
des Deutschen Vereins in
Silutét (Heydekrug)
Foto: Indre Vaikuviene
Das Dr. Hugo Scheu-Denkmal
erinnert an den bekannten Mäzen
und Heimatforscher.
(1845–1937) steht neben seinem früheren Gutshof. Scheu war ein
bedeutender Förderer der Stadt, stellte Grundstücke für den Bau
der Schule und der Kirche zur Verfügung. Sein Interesse galt ins-
besondere der litauischen Sprache sowie der Kultur und dem
Brauchtum. Scheu zu Ehren ist zwar eine Straße gewidmet, aller-
dings in der litauischen Benennung Sojaus. Da Scheu aus einer
deutschen Familie stammte, finden wir es schade, dass nicht der
deutsche Name im Straßenschild vorkommt.
Wir fahren ins Memeldelta nach Rusne (Ruß) an die Stelle, wo
si ch der Memelarm Russ vor der Mündung ins Kurische Haff in
weitere Flussarme aufteilt.
Die mit dem EU-Logo versehenen
Erläuterungstafeln zum Memeldelta
sind leider nur in Litauisch verfasst.
Die Tafeln enthalten Auszüge von
alten Reichskarten. Auch hier vermis-
sen wir eine deutsche Übersetzung.
Schade, werden solche Projekte zum Die Hohe Düne auf der
großen Teil aus Deutschland mitfi- Kurischen Nehrung in Nida
nanziert.
(Nidden)
Am nächsten Tag entscheiden wir
uns für eine Tagesfahrt zur Kurischen Nehrung mit seiner berühm-
ten Dünenlandschaft. Die „Forelle” bringt uns in anderthalb
Stunden von Uostadvaris (Kuwertshof) durch die Memelmün -
dung über das Kurische Haff nach Nida (Nidden). Eine zweistün-
dige Wanderung führt uns über die 73 m hohe Hohe Düne, eine
der größten Dünen Europas, durch den Kiefernwald der
Kurischen Nehrung zur Ostseeküste. Über den neuen Friedhof
von Nidden gehen wir zurück ins Dorf zum Thomas Mann-Haus
und zur Evangelischen Kirche. Im alten Friedhof bei der Kirche
finden wir alte und jüngere Grab denkmäler mit deutscher
Beschriftung. Einige kurische Grabta feln sind ebenfalls noch vor-
handen. Die Kirche von 1888 ist außen wie innen gut erhalten.
Ein aus Deutschland von der EKD eingesetzter Pfarrer betreut im
Sommer die Gemeinde (Einheimische und Urlauber):
Wir besuchen in Heydekrug Martha J., eine typische Ost -
preußin, die der Autor bei einer früheren Reise im Jahr 1 992 ken-
nengelernt hat. In ihrer ostpreußischen Mundart erzählt sie von
der Zukunftslosigkeit der Deutschen im Memelland. Den ost-
preußischen Dialekt sprechen nur noch die über Achtzigjährigen.
Die evangelischen Gottesdienste in der Stadtkirche werden durch-
weg in Litauisch abgehalten, so Martha J.. Nur bei besonderen
Anlässen, z.B. bei Besuch aus der Partnerstadt in Deutschland,
wird in Deutsch übersetzt. Dabei sind die meisten evangelischen
Christen in Silute Deutsche oder sogenannte Deutschstämmige.
Insgesamt wird Marthas Ansicht zufolge viel zu wenig für den
Erhalt der deutschen Kultur und Sprache im Memelland getan.
Weiter berichtet Martha über ihre Odyssee, der Flucht ins
„Reich” und der Rückkehr ins Memelland. Evakuiert wurden die
Memelländer durch Deutschland im Herbst 1944. Ihre Familie
hielt sich in mehreren Lagern in Deutschland und Österreich auf
und ließ sich nach Kriegsende in der Nähe von Hersbruck bei
Nürnberg nieder. Martha hatte als Jugendliche schon begonnen,
sich dort einzuleben, bis im Jahr 1947 eine sowjetische Kommis -
sion in Ansbach zur Rückkehr ins Memelland mit dem Verspre -
chen auf Nahrung, Arbeit und Wohnung aufrief. Schon bei der
Rückreise im Güterwaggon ahnte die Familie, dass diese Verspre -
chungen nicht eingehalten werden. Die Familie J. war in Silute
(Fortsetzung auf Seite 18)
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