Sonntagsblatt 5/2015 | Page 17

Herr Helmut Brechtel ist ehrenamtlicher Domaufseher in Riga und biet uns einen sehr interessanten Stadtrundgang an. So erle- ben wir eine locker Stadtführung durch Riga, bei der auffällig oft von Einheimischen begrüßt werden. Seit vielen Jahren verbringt Helmut den Sommer in Lettland. Seine Vorfahren stammen von hier und das ist der Grund, weshalb es den junggebliebenen Rentner, der im Großraum Hannover wohnt, hierher zieht. Riga ist seine Liebe, hier praktiziert er das lebendige Miteinander der Kulturen. Herr Brechtel verständigt sich in deutscher Sprache, spricht auch ein bisschen Englisch und Lettisch. „Viele Letten ver- stehen gut Deutsch, können es aber nicht sprechen. So klappt die Verständigung gut”, sagt er uns. Während wir durch die Stadt schlendern, bekommen wir immer wieder seine persönliche Aus - strahlung zu spüren. Letten winken uns zu, grüßen auf Deutsch, zwei Blechbläsermusikanten spielen deutsche Volkslieder wie: „Ännchen von Tharau” und „Im tiefsten Wiesengrunde”. Ein Mann verkauft uns für eine Spende Karten mit den schönsten Jugendstilbauten der Stadt. In den Kirchen kennen viele der Auf - seher „unseren Helmut”. Sie alle wissen, dass Helmut mit Touris - ten unterwegs ist und ihnen etwas vom Herzen dieser Stadt nah- ebringt. Das ist ihm voll gelungen, wofür wir ihm sehr dankbar sind. Deutscher Verein in Siluté (Heydekrug) im früheren Memelland Wir reisen weiter nach LITAUEN ins frühere Memelland. Das Memelland ist der nördlich der Memel gelegene Teil des früheren Ostpreußens, der infolge des Versailler Vertrags (1919) nach einer dreijährigen Verwaltung durch Frankreich im Jahr 1923 von Li - tauen annektiert wurde. Wir nehmen die Landstraße von Silalé nach Siluté (deutsch: Heydekrug). Gleich nach der früheren deutsch/russischen bzw. deutsch/litauischen Grenze ändert sich der Baustil. Fest gebaute Ziegelhäuser oft mit Rundbogen fens - tern, Jugendstilhäuser flankieren die Straßen in Heydekrug. Dort wohnen wir im Haus „Heide” des Deutschen Vereins. Der Deutsche Verein in Heydekrug wurde im Jahr 1992 gegrün- det. Damals zählte der Verein etwa 1 200 Mitglieder, derzeit sind es noch etwa 400, so die Vorsitzende Gerlinda Stunguriene. Der Deutsche Verein beklagt die fehlende Unterstützung durch Deutschland seit dem EU-Beitritt Litauens im Jahr 2004, aber auch durch Litauen, das sich für deutsche Vereine nicht verant- wortlich fühlt. Die Argumente der litauischen Seite verweisen auf die in Deutschland lebenden gut situierten Memelländer. Der starke Rückgang der Vereinsmitglieder liegt vor allem am Wegsterben der „Erlebnisgeneration”. Nachwuchs ist rar, weil die jüngere Generation im Ausland Arbeit findet oder sich mehr als Litauer betrachtet. „Die deutsche Kultur im Memelland hat einen schweren Stand”, sagt uns Gerlinda. „Die Älteren müssen mit der Jugend mangels Verständigung oft litauisch sprechen”. Gerlinda spricht die zweisprachig litauisch-englische Infotafel im alten Evangelischen Friedhof an. Dieser wurde während der Sowjetzeit zerstört. Wir vermissen hier die deutsche Erläuterung auf der lnfotafel. Wir waren bei mehreren Institutionen im Me - mel land wie Touristinformation, Stadtverwaltung, Bibliothek und wurden freundlich zumeist auf Englisch beraten. Das im Jahr 2001 mit Hilfe von Spendern aus Deutschland und des Rotary Clubs eingeweihte Denkmal für Dr. Hugo Scheu Eindruck vom Sommerrest des Deutschen Vereins in Silutét (Heydekrug) Foto: Indre Vaikuviene Das Dr. Hugo Scheu-Denkmal erinnert an den bekannten Mäzen und Heimatforscher. (1845–1937) steht neben seinem früheren Gutshof. Scheu war ein bedeutender Förderer der Stadt, stellte Grundstücke für den Bau der Schule und der Kirche zur Verfügung. Sein Interesse galt ins- besondere der litauischen Sprache sowie der Kultur und dem Brauchtum. Scheu zu Ehren ist zwar eine Straße gewidmet, aller- dings in der litauischen Benennung Sojaus. Da Scheu aus einer deutschen Familie stammte, finden wir es schade, dass nicht der deutsche Name im Straßenschild vorkommt. Wir fahren ins Memeldelta nach Rusne (Ruß) an die Stelle, wo si ch der Memelarm Russ vor der Mündung ins Kurische Haff in weitere Flussarme aufteilt. Die mit dem EU-Logo versehenen Erläuterungstafeln zum Memeldelta sind leider nur in Litauisch verfasst. Die Tafeln enthalten Auszüge von alten Reichskarten. Auch hier vermis- sen wir eine deutsche Übersetzung. Schade, werden solche Projekte zum Die Hohe Düne auf der großen Teil aus Deutschland mitfi- Kurischen Nehrung in Nida nanziert. (Nidden) Am nächsten Tag entscheiden wir uns für eine Tagesfahrt zur Kurischen Nehrung mit seiner berühm- ten Dünenlandschaft. Die „Forelle” bringt uns in anderthalb Stunden von Uostadvaris (Kuwertshof) durch die Memelmün - dung über das Kurische Haff nach Nida (Nidden). Eine zweistün- dige Wanderung führt uns über die 73 m hohe Hohe Düne, eine der größten Dünen Europas, durch den Kiefernwald der Kurischen Nehrung zur Ostseeküste. Über den neuen Friedhof von Nidden gehen wir zurück ins Dorf zum Thomas Mann-Haus und zur Evangelischen Kirche. Im alten Friedhof bei der Kirche finden wir alte und jüngere Grab denkmäler mit deutscher Beschriftung. Einige kurische Grabta feln sind ebenfalls noch vor- handen. Die Kirche von 1888 ist außen wie innen gut erhalten. Ein aus Deutschland von der EKD eingesetzter Pfarrer betreut im Sommer die Gemeinde (Einheimische und Urlauber): Wir besuchen in Heydekrug Martha J., eine typische Ost - preußin, die der Autor bei einer früheren Reise im Jahr 1 992 ken- nengelernt hat. In ihrer ostpreußischen Mundart erzählt sie von der Zukunftslosigkeit der Deutschen im Memelland. Den ost- preußischen Dialekt sprechen nur noch die über Achtzigjährigen. Die evangelischen Gottesdienste in der Stadtkirche werden durch- weg in Litauisch abgehalten, so Martha J.. Nur bei besonderen Anlässen, z.B. bei Besuch aus der Partnerstadt in Deutschland, wird in Deutsch übersetzt. Dabei sind die meisten evangelischen Christen in Silute Deutsche oder sogenannte Deutschstämmige. Insgesamt wird Marthas Ansicht zufolge viel zu wenig für den Erhalt der deutschen Kultur und Sprache im Memelland getan. Weiter berichtet Martha über ihre Odyssee, der Flucht ins „Reich” und der Rückkehr ins Memelland. Evakuiert wurden die Memelländer durch Deutschland im Herbst 1944. Ihre Familie hielt sich in mehreren Lagern in Deutschland und Österreich auf und ließ sich nach Kriegsende in der Nähe von Hersbruck bei Nürnberg nieder. Martha hatte als Jugendliche schon begonnen, sich dort einzuleben, bis im Jahr 1947 eine sowjetische Kommis - sion in Ansbach zur Rückkehr ins Memelland mit dem Verspre - chen auf Nahrung, Arbeit und Wohnung aufrief. Schon bei der Rückreise im Güterwaggon ahnte die Familie, dass diese Verspre - chungen nicht eingehalten werden. Die Familie J. war in Silute (Fortsetzung auf Seite 18) 17