Sonntagsblatt 4/2018 | Page 24

noch: Sie sind im Allgemeinen gewissenhafte, sehr zuverlässige, arbeitsame und fleißige (meist) Angestellte. Sie gingen seit der Zeit ihrer Ansiedlung, Anfang des 18. Jahrhunderts, in der Regel landwirtschaftlichen Tätigkeiten nach, die viel Wissen, Erfahrun- gen und Ausdauer erfordern: Weinbau, Tabakanbau, Tierzucht und Gartenkultur. Milieu tiefer Armut abseits jeglicher Bildung und Kultur stammten und nicht in der Lage waren, das beschlagnahmte schwäbische Vermögen zu verwerten. Wir könnten etwas erahnen vom Zu- grunderichten der ungarischen Provinz, der wenig bekannten Motivation der Entstehung der gegenwärtigen Situation auf dem Lande. Die Vorurteile, die in meiner Familie vorhanden waren, konnten mich in meinen Beobachtungen auch nicht beeinflussen, ich war lediglich erstaunt, aber verstanden habe ich sie nicht. Wegen einer Lebensform, die gekennzeichnet ist von Arbeitsamkeit und Sparsamkeit, waren/sind (?) die Schwaben, genauso wie die Ju- den, eine Nationalität, die stets Gegenstand von Neiddebatten sind/waren (?). Im Weiteren möchte ich die wichtigsten wesensgleichen Züge des Buches von Anna Kerekes und von „Naspolya” hervorheben: Auf der anderen Seite wollte ich das Buch von Anna Kerekes deshalb lesen, weil dessen Veröffentlichung zeitlich sehr nahe stand zum Aufzeichnen der (persönlichen) Geschichte der Ah- nen unserer Familie, was für mich einem Aha-Erlebnis gleich- kam. Sofort, nachdem ich die Buchempfehlung in der Zeitschrift HVG gelesen haben, wollte ich das Buch von Anna Kerekes le- sen. Und nicht nur wegen den Neuigkeiten und Zusammenhän- gen, die ich während der Recherche für mein Buch „Naspolya” entdeckt bzw. erkannt habe, sondern auch deshalb, weil auch unser Buch von derselben historischen Epoche handelt wie das von Anna Kerekes. Ich habe auch viele Parallelen entdeckt, auf die ich später noch eingehen werde. Und womit ich nicht gerech- net habe bzw. woran ich am Anfang nicht gedacht habe, schufen die Begegnungen mit Mitgliedern der größeren (nicht engeren!) Verwandtschaft, die Gespräche, das In-Erinnerung-Rufen der gemeinsamen oder nicht gemeinsamen Vergangenheit nicht nur ein neues, emotionales Gefühl der Wärme, Bindungen und eine Gemeinschaft, sondern weckten bei zahlreichen Familien- mitgliedern eine gewisse Schaffenskraft (an dieser Stelle wäre es besser, den englischen Begriff „contribution”, also Beitrag, zu verwenden), die das Erlebnis der Entdeckung der Familie dank ihren eigenartigen Mitteln bis zum heutigen Tage mit neuen und neuen Fakten, neuen Verwandten, Ereignissen und Zusammen- hängen bereichert. Unser Buch „Naspolya” ist lebendig gewor- den, lebt und gedeiht. Wahrscheinlich wurde auch das Buch von Anna Kerekes in Elek zum Leben erweckt. Über die Struktur des Buches Es ist keine Belletristik, die Geschichte endet eigentlich auf Seite 259 mit dem Tod der Großmutter. Eine klare, chronologisch ge- ordnete Lebensgeschichte, mit gut gewählten Kapitelüberschrif- ten, darunter mit den Jahren, auf die sich das jeweilige Kapitel bezieht, und mit schönen, sorgfältig ausgewählten Mottos. Die Sprache der Erzählung ist klar, deutlich, objektiv. Die ausführ- lichen Beschreibungen sind detailreich, präzise, das Faktenwis- sen der Autorin ist beeindruckend. Sie meidet selbst heikle The- men nicht, aber auch darin bleibt sie stets objektiv und korrekt. Die vielen Fotos im Buch weisen auf die Bedeutung der Verewi- gung der Familienmitglieder hin (das Familiengruppenfoto ist in Europa heute noch in Mode). Man sieht, dass dies in der Fa- milie von Anna Kerekes von allen Generationen getragen und erwünscht war. Die Texterläuterungen bieten eine gute Orientie- rungshilfe zum Verständnis der Fotos und zur Vertiefung sowie Differenzierung der Fantasie des Lesers. Der Schlussteil mit seinen vierzig Seiten (S. 260 – 300) stellt eine sehr wichtige Ergänzung dar, die gleichhzeitig der historischen Authetizität Rechnung trägt: Diese 40 Seiten sind eine gewis- senhafte Darstellung und Verewigung der Malenkij Robot, der Dorfgesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, des Lebens der vertriebenen Schwaben in Deutschland in der Zeit vor und nach dem Marshall-Plan. Die womöglich interessantesten Kapitel handeln von den 1950er Jahren in Elek. Elek war ein Dorf (eine Stadt?), wo die verbliebenen Schwaben, die sich als Alteinge- sessene betrachteten, mit den geringgeschätzten, faulen Neu- siedlern („telepesek”) zusammenleben mussten, die aus einem 24 - „Die Erinnerung bleibt bei den damaligen Kinderaugen.” (Zitat von Sándor Révész) - Sie handeln vom Leben alltäglicher Menschen, das stets von historischen Ereignissen begleitet wird. - die Bedeutung des Gesetzes über die Volksschulbildung (1868) – das Hochschätzen des Lernens, des Wissen und der Qualifikation - die Erwähnung der unterschiedlichen politischen Einstellun- gen innerhalb der Familie - die Tätigkeiten der Frauen (von der Handarbeit gesondert), der Haushalt, die Selbstversorgung - „Mischehe”, das unterschiedliche Schicksal der Familienmit- glieder, deren Auswirkungen, Vorurteile - „Das Leben der Mutter war zwischen 1930 und 1938 am glücklichsten.” (S. 76) – das meiner Mutter ebenso. - Beide (Buchautoren) haben aus verzerrten historischen Ste- reotypen heraus (das hat man uns vermacht) die objektivere, multiperspektivische historische „Wahrheit” rekonstruiert. - „man konnte darüber nicht sprechen” - und man wollte, wir wollten es auch nicht: über Vertreibung, Malenkij Robot, Ver- schleppung, den Tod am Don – endlich kann man es vielleicht wieder (ABER: Muss man wieder Angst haben? Es gibt welche, die auch heute noch Angst haben!, S. 301) - Neben all den negativen Sachen finden auch positive ihren Platz, das macht das Buch authentisch. Schließlich möchte ich darauf eingehen, dass meine Kenntnis- se über die Ähnlichkeiten hinaus, die von einer Mentalitätsver- wandtschaft beider Autoren zeugen, durch das Studium des Bu- ches von Anna Kerekes bedeutend erweitert wurden. Ich denke, dass ich dadurch auch demonstriert habe, in welcher Hinsicht der Durchschnittsleser ungarischer Staatsbürgerschaft mit Hilfe des Buches von Anna Kerekes neue Informationen bekommen kann. - Einer der größten Verdienste des Buches ist die Darstellung der Details der Vertreibung nach Deutschland. Sie ist objektiv, zeigt sowohl Negatives als auch Positives: Die Versorgung der Vertriebenen ist mustergültig, die Details sind interessant, das Verhalten der deutschen Bevölkerung ist erstaunlich korrekt, die Amerikaner trieben in ihrer Zone sofort Handel. Die überra- schenden Auswüchse des deutschen Faschismus durch die Au- gen eines Minderjährigen, die Auswirkungen des Marshall-Plans auf die Bevölkerung und die Vertriebenen, da sich die staatliche Fürsorge auf alle erstreckte. - Die Zustände in Deutschland und Ungarn der 50er Jahre, riesige und wachsende Unterschiede hinsichtlich Entwicklungs- stand. Die deutsche Anständigkeit den Vertriebenen gegenüber, die bürgerliche Mentalität in Deutschland, im Gegensatz zur Armut und Torheit in Ungarn, Zusammenarbeit mit dem aktuel- len Regime ohne moralisches Hinterfragen SoNNTAGSBLATT