Sonntagsblatt 4/2016 | Page 21

Lehrer: „Deine Muttersprache?” Bauer: „Deutsch.” Lehrer, schon erregt: „Pass auf, Kerlchen, wenn du glaubst, du kannst dich mit mir anlegen, fängst du ein paar Ohrfeigen. Ich habe laut und deutlich gesagt, dass es in meiner Klasse keine Deutschen gibt!” Weiter ging es u.a. zweimal mit Baumann und zweimal mit Gehring, wobei der jüngere allerdings erfolglos, darauf bestand, dass bei ihm „deutsch” eingetragen wird. Und dann kam Glöckner an die Reihe: Staatsangehörigkeit ungarisch, Volkszugehörigkeit deutsch… Der Lehrer sprang so heftig auf, dass sein Stuhl nach hinten umkippte, hob das Klassenbuch hoch und schlug es mit Wucht auf den Tisch. Dann kam er schnellen Schrittes durch die Bankreihen auf mich zu. Ich erwartete die vorher Bauer angedrohten Ohr - feigen, was in der Bürgerschule zwar verboten, aber durchaus noch möglich war. Er nahm sich aber zusammen und schrie mich nur an: „Te buta sváb kölyök!” (Du dummer Schwabenbengel.) Und weiter: „Ihr esst ungarisches Brot, dann bekennt euch auch zum ungarischen Volk und Vaterland. Euer verdammter Panger - manismus wird euch schon ausgetrieben werden!” Und dann fragte er geradezu freundlich: „Und welches ist deine Muttersprache?” „Deutsch, Herr Lehrer.“ Er wurde blass, fragte aber weiter: „Wieso denn deutsch? In welcher Sprache sprichst du denn zuhause mit deinen Eltern?” „Deutsch, Herr Lehrer.” Der Lehrer mit angehobener Stimme: „Warum sprecht ihr deutsch und nicht ungarisch?” „Meine Mutter kann nicht ungarisch, Herr Lehrer:” Ich sehe ihn heute noch bildlich vor mir stehen. Er lief im Ge - sicht rot an, hob sich auf die Zehenspitzen und brüllte mich von oben herab mit aller Kraft seiner Lungen und vor versammelter Klasse an: „Dann sprich nicht mehr mit deiner Mutter, bis sie ungarisch gelernt hat!” Peter Glöckner • Zum Feierabend • Von der Fähigkeit wahrzunehmen und loszulassen Interview mit dem scheidenden Pfarrer der Kath. Elisabethgemeinde Budapest, Gregor Stratmann Nach fünf Jahren Dienst verlässt der deutsche Pfarrer Gregor Stratmann Budapest. Aber nicht nur die Deutschsprachige Elisabethgemeinde Budapest nimmt Abschied vom westfälischen Geistlichen, sondern auch die Ungarndeutschen, deren wahrer Freund und Fürsprecher Gregor Stratmann in den Jahren gewor- den ist. Das Sonntagsblatt, zu dessen treuen Lesern der Geistliche von der ersten Minute in Ungarn an gehört, führte ein Interview mit dem 60-jährigen Deutschen. SB: Pfarrer Stratmann, von Anfang an betonten Sie eine gewisse Verbundenheit mit diesem Land, und setzten dafür die Namens - verwandschaft mit dem berühmten Arzt Ladislaus Fürst Batthány- Strattmann ein. Wie erleben Sie nun diesen Moment des „Loslassens” (ein Begriff, den Sie in Gesprächen mehrfach benutzt haben)? GS: Vor fünf Jahren bin ich mit ganz viel Neugier und Elan hier- hergekommen, habe mich sehr für diesen Raum interessiert, weni- ger vielleicht für Ungarn als Ungarn, sondern viel mehr für diesen Raum im geografischen Sinne. Mein Name Stratmann selbst ist sehr verbunden mit der ungarischen Geschichte, durch den Na - men Batthiány-Strattmann, das hat mich eher motiviert. Jetzt am Ende meiner Zeit, wo ich eben fünf Jahre hier bin – die Umstän - de, warum ich gehe, sind ja bekannt, die Bischöfe haben eine Versetzung angeordnet -, steht in der Tat – ein wenig gesättigt – das Gefühl des Loslassens im Mittelpunkt: ein Stück eben diesen Raum, diese Geschichte, diese Erfahrungen, die ich hier erlebt habe, auch jetzt loszulassen, weil ich mich auf etwas Neues hinbe- wege. Diese Eingangsfrage ist eher eine philosophische Frage, an einen Philosophen, als eine, die mit einem konkreten Zusammen - hang verbunden ist. Dennoch halte ich es für einen ganz wichtigen Begriff, dass wir es überhaupt lernen, loszulassen, wo wir eigent- lich immer klammern. Und meine Erfahrung ist, auch in den Predigten und in den Begegnungen mit den Menschen, dass sich die Menschen schwertun, dieses Wort mit einem konkreten Inhalt zu verbinden. Es sei mir erlaubt zu sagen, dass es unheimlich wich- tig wäre, dass dieser Begriff „Loslassen” ein Teil der ungarischen Geschichte, nun nicht die Geschichte dieses Raumes, wird, weil die voller Klammern, Binden, Halten, Fixieren, Zementieren und Rückschauhalten ist, und was dem ganzen Land guttäte, wäre eben das Loslassen zumindest der uralten Geschichte. Die jünge- re Geschichte müsste noch aufgearbeitet werden, was ich aber noch nicht sehen kann. SB: Fünf Jahre Dienst in einer deutschsprachigen Auslandsgemeinde – von welchen Erfahrungen und neuen Erkenntnissen war diese Zeit geprägt? GS: An Erfahrungen zunächst, dass ich als Norddeutscher von der holländischen Grenze von der neueren Geschichte, der konkreten Geschichte, die sich hier ganz dramatisch abgespielt hat, im Sinne der Vertreibung der Donauschwaben, nie etwas gehört habe. Das ist in der Tat eine neue Erfahrung in meinem Leben. Das Thema „Vertreibung” zieht hingegen durch mein ganzes Leben hindurch. Ich habe sie in Südafrika erlebt, in Israel erlebt, aber dass es eine Gruppe gibt, Donauschwaben oder Ungarndeutsche, die mit Vertreibung zu tun hatten, war eine völlig neue Erfahrung für mich. Eine neue Erkenntnis? Die ist nicht neu, sondern da be - stärkt sich etwas in mir, da bin ich vielleicht zu sehr Theologe: Dass menschliches Schicksal wahrgenommen werden möchte. Es geht da nicht einmal um die Wertschätzung des Leidens des Ein - zelnen, sondern noch um die Vorstufe des Wahrnehmens. Das ist die Erkenntnis, die durch mein ganzes Leben zieht und sich durch diese letzte Erfahrung bündelt: Wir müssen lernen, authentisch wahrzunehmen. Das ist gar nicht so einfach. Wir kommen ganz schnell mit Begriffen wie Wertschätzung und Empathie, aber davor liegt noch etwas, und das heißt ganz realistisch den Blick auf das Ereignis zu richten und wahrzunehmen, dass es Menschen gibt, mit denen man zu tun hat, die mit ihrer Biografie wahrge- nommen werden müssen. Daran mangelt es in diesem Land ohne Zweifel. Es wird ja alles Mögliche gemacht: Denkmäler aufge- stellt, Literatur darüber verfasst, aber zu wenig der/die Einzelne wahrgenommen. Ein eindrucksvolles Beispiel waren die letzten Wahlen, wo die Ungarndeutschen einen Vertreter wählen konnten und wo es sich ganz deutlich zeigte, wie wenig wahrgenommen wurde. Ich will es an einem Beispiel ausführen: Ich wurde mehr- mals gefragt und habe dabei die Menschen stets ermuntert zur Wahl zu gehen, auch Angehörige der deutschen Minderheit, weil sie nun ein Privileg haben, diese Möglichkeit, aber, wohlgemerkt kenne ich die Feinheit der Wahlgesetzgebung nicht, ganz oft kam dann die Aussage: „Herr Pfarrer, wir haben Angst vor der Liste”: Man muss sich eintragen in eine Liste. Und diese Angst vor den (Fortsetzung auf Seite 22) 21