Sonntagsblatt 4/2015 | Page 21

pflegt, ist hier undenkbar. Als ich erwähne, dass ich aus Deutsch - land komme, ist natürlich erst recht die Neugier geweckt, werden die üblichen Fragen gestellt: wissen die Deutschen, dass es unser Land gibt? Und wie ist es so bei euch? Stimmt es, dass alle so reich sind? Heimat ist jetzt woanders Als mich Schenja das fragt, muss ich an mich selbst und mein damaliges Bild von Deutschland denken als ich neun Jahre alt war. Einige Wochen vor der Abreise saß ich auf dem Schoß mei- ner Großmutter und sie beteuerte, dass man in Deutschland die Straßen mit Putzmittel säubere und es dort alles gebe, was ich mir nur denken kann, so gut würden wir es da haben. „Sogar die zolo- taja rybka gibt es in Deutschland?” fragte ich erstaunt. Leider kann ich mich nicht erinnern, ob meine Großmutter mir bei die- ser Gelegenheit auch eröffnet hat, dass der Goldfisch, der einem jeden Wunsch erfüllt, ein Fabeltier der russischen Märchen ist. Nartay fragt, ob ich schon verheiratet sei und warum noch nicht? So richtig überzeugend scheinen meine Ausführungen zu letzterem übrigens nicht zu sein. Schenja und Nartay lächeln höf- lich, gucken jedoch skeptisch. Mir wird klar, dass der wahre Grund schlichtweg der ist, dass ich Deutsche und nicht mehr Russin oder Kasachstanerin bin. Ich wurde in der deutschen Gesellschaft sozialisiert und in Deutschland wird nun mal selten der erste feste Freund geheiratet. Wie so manches Mal auf dieser Reise, versuche ich mir vorzustellen, wie mein Leben wohl ausge- sehen hätte, wenn meine Familie nicht ausgereist wäre. Hätte ich vielleicht schon eine eigene Familie? Welchen Beruf hätte ich gewählt und was würde ich über Europa denken? Landleben ist wie zu Sowjetzeiten Trotz der stickigen Luft im Abteil ist mir die Gesellschaft meiner beiden Mitreisenden mehr als recht. Beim Reden vergeht die Zeit schneller und so erzählen wir einander von einander und futtern uns durch 24 Stunden Dürre, Dünen und Steppenpanorama. Als der Zug zum letzten Mal vor Ustkamenogorsk hält, steigt Nartay aus und kauft an einem der kleinen Stände auf dem Gleis ein Souvenir für mich: einen Küchenmagneten mit dem Bild einer kasachischen Moschee. Zur Erinnerung an unsere gemeinsame Zugfahrt, sagt er zum Abschied. In Ustkamenogorsk holt mich Irina, eine alte Schulfreundin meiner Mutter ab. Die Tage vor meiner Rückreise nach Berlin ver bringe ich bei ihr und ihrem Mann Sergei in einem Dorf na - mens Rulicha. Irina und meine Mutter waren Nachbarinnen, ken- nen sich von Kindesbeinen an und haben über all die Jahre Kon - takt gehalten. Gesehen haben sie sich seit 1994 nicht mehr– meine Eltern haben es nach wie vor nicht gewagt, nach Kasachstan, sei es auch nur für eine kurze Reise, zurück zu kehren. Irina ist Landtierärztin und lebt seit eh und je nach dem alten sowjetischen Modell der Selbstversorgung. Jeden Morgen um 5 Uhr geht sie ihre zwei Kühe melken, während Sergej die sieben Schafe und die beiden Hunde füttert und den Stall ausmistet. Aus der fünfpro- zentigen Milch ihrer Kühe macht Irina Butter, Quark und Sauer - rahm. Anschließend kümmert sie sich um die Pferde, Kühe und Schafe der Bauern in der Gegend. Nachmittags wird der Gemüse - garten gegossen, etwas angepflanzt oder geerntet. Ich helfe den beiden so weit ich kann und genieße das Landleben, insbesondere den abendlichen Besuch der russischen Sauna, Banja. Auf dem Land scheint sich nicht viel getan zu haben – unser Leben sah 1994 ziemlich ähnlich aus, auch wenn wir keine Nutztiere hatten. Neues Nationalbewusstsein Kasachstan war während der Sowjetunion jahrzehntelang ein von Russland beherrschtes Land. Ich erinnere mich, Kasachen kannte ich nur als Phäno - men auf Volksfes - ten. Bei nationalen Feiertagen konnte man sie in ihrer tra- ditionellen Tracht beobachten, in einer Jurte sitzend oder auf Pferden reitend, Lamm-Schaschlik und Pferdemilch verkau- fend. Heute ist das anders: Es gibt Kasachen in den Banken, den Geschäften, auf der Straße, im Restaurant; überall hört man die kasachische Sprache, Straßen und öffentliche Gebäude tragen kasachische Namen. Das Volk der Kasachen hat sich von der Folklore emanzipiert und ist nun Realität seines Landes. So fremd mir mein eigenes Hei matland in den beiden Wochen meiner Reise vorkam, eine Er kenntnis hat mich besonders gefreut: Kasachstan ist auch endlich wieder das Heimatland der Kasachen. • Weltweit DEUTSCH • „Die neue Woche in Australien” – Deutschsprachige Nachrichten aus Sydney Deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften gibt es fast überall, so auch in Australien. Dort erscheinen nach Untersuchungen der Internationalen Medienhilfe (IMH) rund 30 Publikationen. Produziert werden sie für diejenigen unter den weit über 500 000 deutschstämmigen Einwanderern im Land, die ihre Mutterspra - che bewahrt haben und weiterhin nutzen möchten. Das Spektrum des Publikationsangebots reicht vom 1853 gegründeten „Evange - lisch Lutherischen Gemeindebrief” aus Melbourne über den „Ger man–Australian Business Guide” und eine Zeitschrift des australischen Deutschlehrerverbandes bis hin zur Zeitung „Die neue Woche in Australien” aus Sydney. Den Zusatz „neue” trägt die 1957 gegründete Wochenzeitung erst seit Anfang 2014 im Titel. Denn zum Jahresanfang wechselte die Leitung. Die noch recht junge Nadine Halberkann aus Bergisch Gladbach übernahm das Ruder von Ludger Heidelbach. Halberkann, die in Bonn Ger - manistik und Geschichte studiert hat, kam 2008 als Praktikantin zum Blatt. Nun ist sie Herausgeberin und Chefredakteurin mit viel Verantwortung. Sie will insbesondere jüngere Leser hinzuge- winnen und auch im Internet auf die Zeitung aufmerksam machen. Dafür wurde beispielsweise kürzlich ein Facebook- Auftritt eingerichtet, wo sich die frischegebackene Herausgeberin über einen Dialog mit Abonnenten, Inserenten und Interessenten freut: www.facebook.com/pages/Die-neue-WOCHE-in-Australien/ 409948769138952 Deutsche USA Washington (IMH-Deutschland.de) – Die Deutschstämmigen sind die größte Bevölkerungsgruppe der Vereinigten Staaten. Im Rah - men der letzten US-Volkszählung haben rund 50 Mio. Menschen angegeben, deutsche Vorfahren zu haben – das waren 6 Mio. mehr als bei der vorherigen Erhebung. Die Zunahme ist jedoch nicht durch eine vermehrte Einwanderung zustande gekommen. Die alteingesessenen Deutschamerikaner machten ihre Kreuz - chen nur geschichtsbewusster. Wie deutlich sie jetzt die Liste der bedeutendsten ethnischen Gruppen anführen, zeigt folgende Aufstellung: 1. deutschstämmige US-Amerikaner = ca. 50 Mio. Menschen 2. irischstämmige US-Amerikaner = ca. 35 Mio. Menschen 3. mexikanischstämmige US-Amerikaner = ca. 31 Mio. Menschen 4. englischstämmige US-Amerikaner = ca. 27 Mio. Menschen (Fortsetzung auf Seite 22) 21