Sonntagsblatt 2/2015 | Page 6

setzungen gegeben . Diese Kulturen haben sich eher ineinander eingefügt , einander bereichert .”
In der darauf folgenden Aufzählung können wir jedoch ausschließlich darüber lesen , wie die hier lebenden Minderheiten der Bereicherung der ungarischen Kultur gedient haben . Doch müssen wir diese Frage freilich auch aus der anderen Richtung stellen : Was hat den hier lebenden Minderheiten das Zusammenleben mit den Madjaren bedeutet ? Genauer : Wo befindet sich heute dieser Verlauf , ein Vierteljahrhundert nach der politischen Wende ? Die Mitglieder der von Györgyi Bindorffer geleiteten Forschergruppe suchen – auf ganz allgemeiner Stufe – die Antwort auf diese Frage . Diese Forschung ist eigentlich die Ausweitung jener sehr erfolgreichen Arbeit , die in dem früheren Band „ Doppelidentität : ethnisches und nationales Selbstbewusstsein in Dunabogdány ” von Györgyi Bindorffer dargeboten wird . Auch schon in diesem Buch ist der Grundgedanke der jetzigen Forschung vorhanden : Die Lage der jetzt in Ungarn lebenden Minderheiten könnte am ehesten mit dem Begriff „ Doppelidentität ” gekennzeichnet werden . „ Die Doppelidentität ist solch eine Identitätsform , in welcher die in einem mehrheitlich dominanten Land lebende Minderheit neben der Erhaltung und Repräsentation der eigenen ethnischen Identität sich jene Elemente der Identität des Mehrheitsvolkes zu Eigen macht , die aus dem Elementenschatz der eigenen ethnischen Identität fehlen ”. Diese Begriffschaffung versucht die Ge - sichtspunkte der Soziologie und der kulturellen Anthropologie zu vereinen . Die Studien des erwähnten Buches halten sich jedoch nicht an diese disziplinare Festlegung : Fast in jeder Schrift stoßen wir auf kürzere – längere geschichtliche und volkskundliche Ana - lysen . Und gleichzeitig erscheint solch ein ausgesprochen soziologischer Begriff , der in Konkurrenz steht zur Doppelidentität : u . z . der Begriff Assimilation . Sándor Horváth nimmt dazu als Beispiel die Geschichte der Kroaten von Grádistye , indem er ausgesprochen die verschiedenen Tendenzen der Assimilation behandelt ( Mischehen , Umgestaltung der Arbeitssituationen , Ausbau des Schulsystems , die Rolle der Kirche und die Erscheinung und Raum gewinnung der Presse ). Der Begriff Assimilation verfügt jedoch im genannten Band über nicht genügend scharfe Kontu - ren : Die Verfasser sprechen öfters über „ natürliche Assimilation ”, sogar ab und zu taucht auch der Begriff „ Integration ” auf . Meiner Meinung nach sollte man unbedingt unterscheiden zwischen Assi - milation und Integration . Mit Integration werden von der Mehr - heit den Mitgliedern der Minderheit Möglichkeiten zugesichert auf den Gebieten Selbstfortkommen und Gestaltung der eigenen Lebensform . Bei Assimilation aber missbraucht die Mehrheit die eigene Übermacht , u . z . in der Weise , dass sie die eigenen Werte , kulturellen Normen und Benehmensbräuche der Minderheit mit Gewalt aufzwingt . Dieser Begriffsrahmen würde die Festlegung verhältnismäßig eindeutiger kritischer Maßstäbe zur Analyse ermöglichen .
Demgegenüber erbringt das Studium der Minderheitenidentität eine zweischneidige Beurteilung . Einerseits könnten wir sagen , es gibt kein größeres Problem , insgesamt ist ja nur von der Aus - gestaltung einer neuen „ Identitätsform ” die Rede . Das entscheidende Moment dieser Identitätsform ist die eindeutige Verdrän - gung der ursprünglichen Dialekte und örtlichen Mundarten der Minderheiten . „ Die Mitglieder der jüngeren Generationen sprechen ausnahmslos besser Ungarisch , infolge der Sozialisation liegt ihr Wissensstoff auf der Basis der ungarischen Kultur ”. Diese Feststellung ergänzt Bindorffer , das Leben eines deutschen Dor - fes in der Branau ( Wemend ) erforschend , mit einer interessanten Bemerkung : Je mehr der Dialekt aus der Kommunikation des All - tags schwindet , umso lieber reden die Menschen von der Wich - tigkeit der Muttersprache . Das Ergebnis ist nun folgendes : „ Muttersprachliche Identität ohne Kenntnis der Muttersprache ”.
Gleichzeitig – und damit eng zusammenhängend – sind die eigentümlichen Berufe und die im Minderheitendasein verankerten Bräuche aus dem Leben der Minderheiten verschwunden . Unter solchen Umständen ( in der Zeit nach der politischen Wende ) ist das maßgebende Element der Minderheitenkultur – bei allen Minderheiten – die Pflege der Kultur : Feierlichkeiten , verschiedene Veranstaltungen , „ Folklorwettstreite u . a . Gesang , Musik und Tanz , sind als ernsthafte Identitätselemente zu betrachten ; die kulturellen Bräuche bedeuten das stärkste Gemeinschaftsbinde - glied ”. Dies könnten wir auch so auffassen , dass die Minderhei - ten kulturen sich museumalisierten ; noch gibt es sie , dennoch sind sie nicht vorhanden . Unter solchen Umständen sind die Min - derheiten-Selbstverwaltungen auf die Bühne getreten . Über sie schreiben alle Verfasser des Buches positiv , dennoch meine ich , dass auch sie sehr gut wissen , dass die erstrangige Aufgabe der Selbstverwaltungen die Verwaltung dieser entwurzelten Kultur sei . Andernteils merkt der Leser eindeutig , dass auch die Verfas - ser öfters zur Schwelle jener Einsicht gelangen , dass sie in Wirk - lichkeit nicht über eine neue Identitätsform , sondern viel mehr über den Verlust der Identität sprechen müssten . Von den Ver - fassern war es allein Orsolya Szabó , die – im Titel ihrer Studie – neben der Doppelidentität ein Fragezeichen angebracht hat . Man könnte meinen , dass bei Verlust der Muttersprache und bei Entwicklung einer museumalisiert Kultur die Existenz auf weiter Sicht unmöglich sein wird . Damit gelangen wir zu einem solchen Ergebnis , dass von zahlreichen Interviewsubjekten auch wirklich angesprochen wurde , wovon sich die Verfasser jedoch allgemein fernhalten wollten . „ Untereinander reden wir nicht mehr schwäbisch . Ich möchte , dass meine Mutter mit meinem Kind schwäbisch rede …, denn wenn die über sechzig Jahre alte Generation ausstirbt , wird niemand mehr so reden . Nach zwanzig Jahren wird man dann entdecken , ach , da ist eine Kultur ausgestorben ”.
Die Leistung der Minderheiten-Kulturen ist allgemein niedriger als die des Mehrheitsvolkes , weil sie sich in einem eigenartigen Ghetto befinden , wobei ein sozusagen innerer , archaisierender Druck sich auf sie legt . In der Debatte über den Multikulturalis - mus hat Charles Taylor jenen Gedanken verfasst , dass trotz allem jede Kultur über eine bestimmte Würde verfügt , von welcher ausgehend sie Recht zum Fortbestand hat . Und schließlich wäre es angebracht zur Kenntnis zu bringen : Dies ist auch elementares Interesse der Mehrheitskultur , wenn sie existieren möchte , auch nach zwanzig Jahren noch .
Thema : Zur Lage der nationalen Minderheiten in Ungarn
„ Liebe Freunde , einerseits meine ich , dass in der Minderheitenpolitik dringend eine Wende nötig wäre . Wenn ich auch immer mit Vorbehalt auf den apokalyptischen Ton in der Diskussion um die Minderheiten schaue . ( Wir sind immer in der 24 . Stunde usw .) Manchmal meine ich aber , dass die Behauptung jetzt und in unserem Zusammenhang trotzdem stimmt . Andererseits fürchte ich sehr oft , dass auch die 24 . Stunde schon vorbei ist . Es wird nur noch der totale Niedergang verwaltet . Es ist traurig : Viele Leute haben dadurch und dafür Stellen usw .
Wenn ich über die Ursachen nachdenke , dann sind es vor allem fünf Ereignisse der letzten 25 Jahren , die die Situation dermaßen verschlechtert haben …
1 ) Die Verfassungsänderung der Bundesrepublik im Jahre 1993 hat die symbolischen Beziehungen zu den Ungarndeutschen fast ganz gekündigt .
2 ) Das ungarische Minderheitengesetz war eine geniale Scheinlösung , und wie schwer war das zu übersehen . 3 ) Die deutsche Minderheit in Ungarn hat sich nach 2006 immer
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