Sonntagsblatt 1/2017 | Page 21

ger Hungarus. Mein Lieblingsfach war damals Ungarische Lite - ratur und Grammatik (neben Geschichte). Ich stand auf und ging ins Bett mit Babits-Bänden, führte ein aktives literarisches Leben: Die ersten Artikel in den lokalen Presseorganen, Buchrezensionen in den Jahrbüchern des Gymnasiums, usw. Leider hatte ich nicht das Glück, während meiner Schulzeit Deutsch zu lernen: Pro forma fand man Deutsch unter unseren Fächern, aber anstatt ernst zu lernen, ging es um Fußball und Spiel, und die Lehrkraft inves- tierte keine Energie in den Unterricht – aber außerhalb der Schule sprach ich mit meinem Vater seit Jahren schon Deutsch. Die Muttersprache meines Vaters ist glücklicherweise die „Lingua teu- tonica”: Er konnte das Ungarische erst in der Grundschule beherr- schen, so auf diese Weise bekam ich diese besondere Haussprache unserer Familie aus erster Hand mit, die deren Hörer rätselhaft anspricht: Fremde Ohren halten sie eindeutig für Österreichisch, aber die Hauptwörter und die Grußformel zählen zur heanzischen Mundart. Es macht das Bild noch komplizierter, dass ein paar von unseren Ausdrücken norddeutsch ist, wie ich es erfahren habe. Das kleine Universum von Ratzenmarkt, welches zuvor beherr- schend war, wurde durch den Eintauchen ins Universitätsleben in Budapest vollkommen ausgeweitet. Kurz nach der Aufnahme mei- nes Studiums entdeckte ich einen gewissen Verein Deutscher Hochschüler im Internet, der eine so genannte „Studentenverbin - dung” sein sollte. Auf den ersten Blick verstand ich das nicht: ungarndeutsch, Wappen, doch bürgerlich, donauschwäbisch, und diese gehen Hand in Hand – ich war sehr gespannt auf sie. Nach mehreren Treffen, Gesprächen trat auch ich in den Verein ein, und wurde ein VDH-ler. Das war eine meiner besten Entscheidungen in meinem Leben, weil diese Verbindung als eine Vorstufe für die Schaffung der künftigen Budapester Jugendorganisation diente: Da lernte ich meine Freunde, Mitarbeiter kennen, dementspre- chend fand ich in Form des VDH erstmal eine richtige ungarn- deutsche Gemeinschaft. Auch die ersten Schritten der Pionierarbeit für die GJU BP geschahen im Rahmen des VDH. Mit mancher Skepsis, aber gleichzeitig mit Freude nahmen wir die gesellschaftliche Jugend - arbeit auf: Wir gründeten unseren eigenen Freundeskreis in der Haupstadt, knüpften wichtige Kontakte, damit auch ein passendes, landesweites Netzwerk entsteht. Eigentlich habe ich die Quintes - senz des Schwabentums durch die GJU kennen gelernt. Je mehr ich an schwäbischen Veranstaltungen teilgenommen habe, desto stärker war das Gefühl in mir, dass ich eine eigene Minderheit in der Minderheit bin: lustige dörfliche Feierlichkeiten, Mulatscha - gen, Schwabenbälle und Volkstrachten machen mehrheitlich diese Identität aus. Das Treffen mit Großmüttern der anderen illustrie- ren am besten meine Verwunderung – vor jedem erscheint das allegorische Bild der schwäbischen Oma: vom Dorfe, ein Fami - lienmensch, spricht die Mundart, kocht besser als manch ein Meisterkoch. Ich war nur acht, als meine Böhm-Großmutter ge - stor ben ist – sie war der vollkommene Gegensatz des vorigen Typs: eine Ofner Dame, aristokratisch, kühl-distanziert, die sich oft mit der österreichischen adligen Abstammung brüstete (einer von unseren Vorfahren diente als Offizier in der k. u. k. Arcièren- Leibgarde unter Maria Theresia, der quasi ein Vorbild in unserer Familie ist). Alles motiviert mich, meinen eigenen Weg zu gehen, und in der ungarndeutschen Gesellschaft unsere Besonderheit zu bewahren. In diesem langen Weg, infolge verschiedener Aktionen und Reak - tionen, folge ich einem Identitätsmuster, nach dem ich mich in der Welt orientiere – ich halte es für einen Beurteilungsmaßstab, für einen sicheren Kompass im Alltag. Das ist weder Leiter noch Stie - ge, lieber ein Xylophon: Es gibt keine Hierarchie unter den Holz - scheiten, alle sind auf der gleichen Stufe, alle bilden Teile des Intru - ments, welche unikal klingen. Das obere Register meines Xylo - phons beginnt mit meinem Christentum, dies ist die universalste Anschauung in meine r Deutung: Ich treffe auf Brüder unter den koptischen Christen in Ägypten sowie im russischen Novgorod. Danach kommt meine westliche Daseins-Deutung, im spengle- risch-huntigtonischen Sinne – ich zähle mich ohne Zweifel zu dem westlichen Kulturraum, deswegen finde ich den gemeinsa- men Nenner sowohl mit litauischen Bauern wie auch mit ameri- kanischen Professoren: klassische Kultur, Christentum, Einfluss der Aufklärung und noch weitere kulturelle Gemeinsamkeiten einigen uns. Ich lese die Gedichte von dem kroatischen Ivan Gundulić, wie die Stücke Walt Whitmans. Mein Europäertum ver- einigt die oben Erwähnten, auf politisch–geopolitischer, wissen- schaftlicher Ebene basieren meine Gedanken auf dem Ideal von Karl des Großen. Meine universale, kontinentale Identität schließt sich mit dem Katholizismus zusammen: Mein Gebet flattert von Wien aus an die gleiche himmlische Macht wie von Reims aus. Das Osteuropäertum bedeutet für mich schon einr Partikularisation in seiner regionalen Natur: Wohl bekannte historische Eigenheiten wie die Habsburgermonarchie, die halb-periphäre Attitüde, und die noch mit uns lebenden gesellschaftlichen, seelenkundlichen Phantome des Staatssozialismus unterscheiden uns, Ungarndeut - sche (Halbperipherie), von den Bundesdeutschen (Zentrum). Mei ne deutsche Identität behümt sich, über diese Cleavage-Linie Brücken zu bauen. Vor allem bin ich Kulturverbraucher der deut- schen Kultur, die Geschehnisse der Welt, die Geschichte, die Politik betrachte ich zuerst unter „deutscher Lupe”, aber nicht nur da - durch. Dieses Deutsch-Bild wird um eine eine oberdeutsch–süddeut- sche Subidentität verfeinert, und da trifft sich mein ungarländi- sches Deutschtum mit meinem Hungarus-Wesen. Ich definierte das Ungartum nie als eine Frage der Rasse oder des Blutes, son- dern ganz im Gegenteil: Das Fundament meines Ungartums ist die bedingungslose Treue zum historischen Apostolischen Ungari - schen Königreich, heute zum ungarischen Staat. Das Nationalitä - ten gesetz 1868 formuliert es am präzisesten: „Wir, die Nationali - täten Ungarns, sind Staats- und Verfassungspatrioten, unter der Beziehung zu dem Land versteht man historische und rechtliche Kategorien. Wir, Deutsche, als Staatsbürger, bekennen uns zu den Ungarn, den anderen Völkern, aber innerhalb des Landes gehören wir zum Deutschtum.” So rief der berühmte Pressburger Germa - nist, Karl Julius Schröer, in seinem Gedicht, in der Sprache der Westungarndeutschen: „An Unger pin i, dess is rain, Lassts mi a daitscher Unger sain” – diese Einstellung war/ist wohlbekannt bei den Slowaken (Uhors ko/Uhersko) und den Kroaten (Ugorska/ Mađarska, wie es in der kroatischen Literatur des 17. Jahrhunderts vielmals darge- stellt wurde) auch – wir, Deutsche, Madjaren, Slowaken, Kroaten, Serben bauten gemeinsam im Laufe der ganzen ungarischen Ge - schichte dieses Vaterland auf, worauf wir stolz sein müssen. Diese Identität ist aber nicht doppelt: Es geht um Land und Volk. Schröer fährt so fort: „Madjar, Schlowack, Gebts hear di Hand Hald ma nea zsamm brav da in Land! Legts mer mai Red niid übel aus: ‘S blaibt unter uns miar sann ja z’Haus” Es ist leicht zu beurteilen, dass das Credo mit dem Bleyerischen Geist übereinstimmt, aber auch das Beispiel von Schröer spornt mich an, das ungarländische Deutschtum als eine historische Schick salsgemeinschaft im karpatenländischen Rahmen zu be - grei fen: Wir können die Geschichte, die Gegenwart unserer Volks - gruppen ohne den anderen nicht verstehen. Historische Logik ordnete die Niederlassungen, die Landschaftsgestaltung und die Kulturschaffung: Ohne Deutsch-Westungarn gibt’s keine donau- (Fortsetzung auf Seite 22) 21