Peace Love Liberty - Konflikte | Page 4

"Der moderne Muslim stellt seinen Glauben bei alltäglichen Entscheidungen nicht in den Vordergrund" Cigdem Toprak ist zuerst Mensch, dann Muslima. Im Interview mit Peace Love Liberty spricht sie darüber, welche Werte aus muslimischen Gesellschaften nicht mit der westlichen Moderne vereinbar sind und warum viele Muslime trotzdem problemlos Teil eines modernen und freien Gesellschaftssystems sein können. Islam und westliche Moderne – hier sehen viele Menschen einen Widerspruch. Frau Toprak, wie ist dieser Eindruck entstanden? Cigdem Toprak ist Journalistin und hat sich als solche unter Anderem auf die Themen Muslime in Europa, die Türkei und Frauenrecht im Islam fokussiert. Mehr von Cigdem gibt es auf ihrem Blog cigdemtoprak.de. 4 Die Vereinbarkeit einer Religion mit einem Konzept der Moderne ist in die öffentliche Debatte gerückt, weil in der islamischen Welt eine große Ablehnung bis hin zum Hass gegen die westlichen Werte und Lebensweisen herrscht. Allen voran ist ein bemerkenswerter Teil der europäischen Muslime anti­westlich eingestellt. Allerdings sollten wir uns gesellschaftlich nicht nur mit theologischen Aspekten des Islams und seiner Vereinbarkeit mit „westlicher Moderne“ beschäftigen, sondern uns mit den Lebenswelten und Einstellungen der Muslime selbst auseinandersetzen. Wenn es um die westliche Lebensweise geht, dann sehen wir sehr wohl, dass es Muslime gibt, die mit Werten wie Säkularismus und individueller Freiheit leben und einen kritischen Umgang mit religiösen Geboten und Verboten haben und diese auch fordern – auch wenn es eine Minderheit ist. Was sie ausmacht ist nicht, dass sie weniger gläubig sind, sondern, dass sie sich nicht nur ausschließlich immer auf ihre Religion beziehen, wenn es um das alltägliche Leben geht ­ aber vor allem kritisch den Islam deuten und dennoch ihren Glauben ausleben. Dann beobachten wir, dass viele Muslime, die es sich leisten können, einen westlichen Lebensstil pflegen, der lediglich mit Konsum verbunden ist. Teure Autos, westliche Designerprodukte oder modernste Technologien werden unkritisch in der Türkei und in den Golf­Staaten konsumiert, während gleichzeitig „westliche Werte“ abgelehnt werden. Besorgniserregend ist, dass zum Teil auch universelle Menschenrechte als ein „Produkt der westlichen Welt“ betrachtet und mit religiösen und kulturellen Begründungen abgelehnt werden; insbesondere, wenn dies unter europäischen Muslimen geschieht. So entstehen Parallelgesellschaften und abgekapselte Lebenswelten. Sie erzeugen Narrative, die Muslime nicht nur von ihrem eigenen Lebensraum isolieren, sondern auch verhindern, dass sie einen normalen Umgang mit der westlichen Kultur entwickeln. Auf diese Weise geschieht es, dass Muslime die westliche Lebensweise missverstehen, verurteilen oder gar hassen. Welche Werte verbinden Sie ganz persönlich mit dem „Westen“? Freiheit, aber auch Überforderung. Denn man muss verstehen lernen, mit individueller Freiheit umzugehen. Bild: flickr.com: Edward Musiak CC BY-SA 2.0 Das Gespräch führte Timotheus Stark