"Der moderne Muslim
stellt seinen Glauben
bei alltäglichen
Entscheidungen nicht
in den Vordergrund"
Cigdem Toprak ist zuerst Mensch, dann Muslima. Im Interview mit Peace Love Liberty spricht sie
darüber, welche Werte aus muslimischen Gesellschaften nicht mit der westlichen Moderne
vereinbar sind und warum viele Muslime trotzdem problemlos Teil eines modernen und freien
Gesellschaftssystems sein können.
Islam und westliche Moderne – hier sehen viele
Menschen einen Widerspruch. Frau Toprak, wie
ist dieser Eindruck entstanden?
Cigdem Toprak ist
Journalistin und hat
sich als solche unter
Anderem auf die
Themen Muslime in
Europa, die Türkei
und Frauenrecht im
Islam fokussiert.
Mehr von Cigdem
gibt es auf ihrem
Blog
cigdemtoprak.de.
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Die Vereinbarkeit einer Religion mit einem Konzept der
Moderne ist in die öffentliche Debatte gerückt, weil in der
islamischen Welt eine große Ablehnung bis hin zum Hass
gegen die westlichen Werte und Lebensweisen herrscht.
Allen voran ist ein bemerkenswerter Teil der europäischen
Muslime antiwestlich eingestellt. Allerdings sollten
wir uns gesellschaftlich nicht nur mit theologischen
Aspekten des Islams und seiner Vereinbarkeit mit
„westlicher Moderne“ beschäftigen, sondern uns mit
den Lebenswelten und Einstellungen der Muslime selbst
auseinandersetzen.
Wenn es um die westliche Lebensweise geht, dann sehen
wir sehr wohl, dass es Muslime gibt, die mit Werten wie
Säkularismus und individueller Freiheit leben und einen
kritischen Umgang mit religiösen Geboten und Verboten
haben und diese auch fordern – auch wenn es eine
Minderheit ist. Was sie ausmacht ist nicht, dass sie weniger
gläubig sind, sondern, dass sie sich nicht nur ausschließlich
immer auf ihre Religion beziehen, wenn es um das
alltägliche Leben geht aber vor allem kritisch den Islam
deuten und dennoch ihren Glauben ausleben. Dann
beobachten wir, dass viele Muslime, die es sich leisten
können, einen westlichen Lebensstil pflegen, der lediglich
mit Konsum verbunden ist. Teure Autos, westliche
Designerprodukte oder modernste Technologien werden
unkritisch in der Türkei und in den GolfStaaten
konsumiert, während gleichzeitig „westliche Werte“
abgelehnt werden. Besorgniserregend ist, dass zum Teil
auch universelle Menschenrechte als ein „Produkt der
westlichen Welt“ betrachtet und mit religiösen und
kulturellen
Begründungen
abgelehnt
werden;
insbesondere,
wenn
dies
unter
europäischen
Muslimen geschieht.
So entstehen Parallelgesellschaften und abgekapselte
Lebenswelten. Sie erzeugen Narrative, die Muslime nicht
nur von ihrem eigenen Lebensraum isolieren, sondern
auch verhindern, dass sie einen normalen Umgang mit der
westlichen Kultur entwickeln. Auf diese Weise geschieht es,
dass Muslime die westliche Lebensweise missverstehen,
verurteilen oder gar hassen.
Welche Werte verbinden Sie ganz persönlich mit
dem „Westen“?
Freiheit, aber auch Überforderung. Denn man muss
verstehen lernen, mit individueller Freiheit umzugehen.
Bild: flickr.com: Edward Musiak CC BY-SA 2.0
Das Gespräch führte Timotheus Stark