Bundesbrief 5
Hinblick auf die Arglist der Zeit“. Wir senschaft herbeiführen wollen. Von
haben es mit einem Schutzbündnis zu Freiheit, Widerstand und Gründung
tun, „innerhalb ihrer Täler“, wie es sei in der Urkunde nicht die Rede. Der
heisst, „und ausserhalb“. Gegen alle, regionale Adel habe mit dem Brief
„die ihnen oder jemand aus ihnen Ge- bloss seine eigene Herrschaft sichern
walt oder Unrecht an Leib
oder Gut antun“. Unrecht verhindern, ist das eine. Unrecht
ahnden, das andere. Und
hier stossen wir in den Kern
des Bundesbriefes vor: „Wir
haben auch einhellig gelobt
und festgesetzt, dass wir in
den Tälern durchaus keinen
Richter, der das Amt irgendwie um Geld oder Geldeswert
erworben hat oder nicht unser
Einwohner oder Landmann
ist, annehmen sollen.“ Mit
anderen Worten: Wir dulden Das SVP-Kader auf dem Rütli.
keine fremden Richter. Und
keine Richter, die ihr Amt gekauft ha- wollen. Das ist gut möglich. Es kann
ben. Und die Richter im Mittelalter schon sein, dass diese Handvoll Leute
sind immer gleichzeitig auch die Herr- damals gar nicht die Absicht hatte, ein
schenden. Man duldet also auch keine Verteidigungsbündnis gegen Habsfremden Herren im Land.
burg zu gründen. Dass sie gar nicht
Die Bedeutung klärt sich rückwirkend. ahnen konnten, dass auf dieses kleine
Nun haben viele Professoren ganze Stück Pergament die grossen UnabAufsätze darüber geschrieben, wie hängigkeitskriege von Morgarten und
unbedeutend der Bundesbrief sei. Das Sempach folgen sollten. Aber so ist
sehe ich als ein gutes Zeichen. Immer es in der Politik. Nicht die Absichten
wenn Intellektuelle keinen Aufwand zählen, sondern die Ergebnisse.
scheuen, eine Sache für unbedeutend Wir leben in einem Land, das einzu erklären, steckt mehr dahinter. Der zigartig ist. Weil wir ein politisches
Historiker Roger Sablonier veröffent- System haben, das einzigartig ist.
lichte 2008 ein Buch mit dem Titel Mit dem Bürger als Souverän. Mit
„Gründungszeit ohne Eidgenossen“. den Volksrechten. Mit der direkten
Seine Hauptthese: Die Innerschwei- Demokratie. Damit klärt sich auch
zer hätten 1291 gar keine Eidgenos- die Bedeutung des Bundesbriefes.
Nämlich rückwirkend. Das Ergebnis
zählt. Wurden, wie die alten Schriften behaupten, nach 1291 die Burgen
gestürmt und die Vögte vertrieben?
Eher nicht, meint die Forschung. Gab
es einen Wilhelm Tell? Den
Rütlischwur? Die Geschichte
mit dem Gessler? Das Ergebnis
zählt. Im 14. und 15. Jahrhundert
entwickelt sich die Eidgenossenschaft aus sich selbst heraus.
Es entstehen Landsgemeinden,
die alle Bewohner eines Gebietes umfassen und die sich ihren
Landammann selber wählen.
Urformen der Demokratie. Während in ganz Europa der Adel
seine Stellung festigt und sich
die Monarchien ausgestalten,
verschwinden in der Schweiz
die aristokratischen Strukturen
weitgehend.
Von unten nach oben gewachsen
Der Bundesbrief ist Teil dieser Kettenreaktion, aus der schliesslich die
Schweiz entsteht. Unser Land hat keine exakte Geburtsstunde. Die Schweiz
ist gewachsen. Von unten nach oben,
wie das Gras auf dem Rütli, dank den
Kühen und dem Naturdünger, den sie
hinterlassen. Der Bundesbrief steht
dafür, dass wir im Kleinen Verantwortung übernehmen sollen. Dass wir
selber für unsere Geschicke zuständig
sind, wir keine fremden Richter und
Herren dulden. Darin liegt die historische Grösse des Bundesbriefes und
darin besteht sein heutiger Auftrag.