Interaktiv - Das Kundenmagazin des Fraunhofer IPA 1.2020 | Page 12

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Skalierungsherausforderung
Zu dem Zeitpunkt waren alle Beteiligten euphorisch und glaubten, der Technologietransfer in die Industrie sei gelungen. Die Auszeichnung mit dem »handling«-Award bestätigte dies zunächst. Aber – einmal »gemacht« genügt nicht. Kraus: »Als es darum ging, die erarbeitete Lösung zu skalieren, mussten
wir noch einige Hürden nehmen. Wir wollten den Griff-in-die-Kiste in einem anderen Projekt einsetzen, um Pleuel auf den Werkstückträger zur anschließenden spanenden Bearbeitung zu legen. Aber die Geschwindigkeit stimmte nicht. Wir sind drangeblieben, haben für die Abnahme der Zelle gekämpft und dies letztlich auch geschafft.« Die gewonnenen Kenntnisse konnten die IPA-Forscher für die Liebherr-Anwendung nutzen und diese weiter verbessern. Außerdem haben sie eine graphische Bedienoberfläche entwickelt, um die Software
nutzer freundlicher zu machen. Liebherr machte damals in Krisenzeiten den richtigen Schritt und stellte Weichen für die Zukunft. Und auch das IPA arbeitet schon seit ein paar Jahren am Griff-in-die-Kiste der Zu kunft:
mehr Autonomie, bessere Taktzeiten, größere Robustheit dank Verfahren des Maschinellen Lernens. Denn kritisch be trachtet, liegt die Verbreitung des Griff-in-die-Kiste noch weit hinter den Erwartungen zurück. Jährlich werden weltweit über 200 000 neue Roboter für die Handhabung installiert. Von diesen führt ein Anteil im Promillebereich den Griff-in-die-Kiste aus. Das Gros der Roboter dagegen greift blind oder nutzt maximal eine 2D-Bildverarbeitung für semichaotische Anlieferung wie beispielsweise beim Depalletieren.
Gleichzeitig finden sich in Produktionen unzählige Vereinzelungs schritte, die per se für den Griff-in-die-Kiste geeignet wären, ganz zu schweigen von Anwendungspotenzialen in der Logistik. Das seit Jahrzehnten bestehende Anwenderproblem der eingangs genannten »3D-Aufgaben« ist trotz guter Wirtschaftlichkeit also auch heute noch sehr groß und nicht gelöst.

Best-of-Industry-Award
2017 gewann Liebherr mit seiner Gesamtlösung rund um die Griff-in-die-Kiste-Technologie des Fraunhofer IPA den »Bestof-Industry«-Award. Und seit vergangenem Jahr ist die Technologie in deren Produktportfolio auch für weitere Roboterintegratoren als Technologiepaket »LHRobotics.Vision« verfügbar.
IPA und Liebherr profitieren gleichermaßen vom Wissenstransfer. »Technologien kundenspezifisch entwickeln, stets verbessern und nachfassen, Hürden systematisch überwinden und gemeinsam den Weg bis zum Ziel gehen.« So formuliert Kraus das Innovationsverständnis.
Ein Grund hierfür: Zellen mit dem Griff-in-die-Kiste sind das erste Glied einer verketteten Produktions- oder Montagelinie. Die Austaktung solch einer verketteten Linie basiert darauf, dass jede Station eine garantierte Leistung erbringt. Der »typische« Griff-in-die-Kiste bringt hier zwei Unsicherheiten mit: »Noch immer ist nicht garantiert, dass ein Roboter alle Teile aus der Kiste entnehmen kann. Die letzten verbleibenden Teile müssen dann händisch vereinzelt werden«, beschreibt Kraus das Problem. Weiterhin steigt mit zunehmender Kistenentleerung auch die Taktzeit deutlich an. »Die Schwankungen in der Taktzeit können entweder über Worst-Case-Auslegung oder Puffer ausgeglichen werden. Die ganze Linie passt sich also einer möglicherweise hohen Taktzeit an oder der Griff-in-die-Kiste startet früher und erarbeitet sich einen »Vorsprung«, um Stillstände zu verhindern«, so Kraus. »Diese Unsicherheiten
verhindern aktuell den breiten Einsatz des Griff-in-die-Kiste in der Praxis.«
»Vision Zero«: vollständige Kistenleerung bei gleichbleibender Taktzeit
Diese zentralen Probleme geht das Fraunhofer IPA mit seiner »Vision Zero« an, dem Ziel, die Kiste bei gleicher Taktzeit vollständig zu leeren. Die Gründe, warum die Vision heute noch nicht Realität ist, sind vielfältig: »Es kann an der Bildverarbeitung liegen, an ungeeigneten Sensoren oder Greifern, ver-