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Eurythmie
»Alles Leben ist Bewegung.« Heraklit
D
ie visionäre Kraft des Entwurfs der Waldorfpädagogik
zeigt sich darin, welch ungeheures Gewicht schon
bei ihrer Begründung auf die kindliche Bewegungsentwicklung gelegt wurde. Kaum eine Fragestellung der Erziehung
erscheint in unseren heutigen Lebensbedingungen und
Kulturzusammenhängen aktueller als die nach dem
Einfluss, den die kindliche Bewegungsentwicklung auf die
kognitiv-denkerischen, emotionalen und gestalterischwillensmäßigen Fähigkeiten hat.
Wie werden die Sinne,
deren Wahrnehmungsfähigkeit und dadurch
ein soziales Vermögen ausgebildet?
Der Bedeutung dieser Frage entsprechend wird die Bewegungskunst der Eurythmie an unserer Schule mit zwei
Wochenstunden unterrichtet. Das Spiel der kleinen Kinder
ist uns ein Lehrmeister für die Freude an der bedeutsamen,
schönen Bewegung. Jubel, Trauer, Spannung und Kraft,
alles offenbaren die jüngeren Schulkinder in ihren Bewegungen: Sie schlüpfen in Gestalten, in Tiere, in Wind, Welle,
Luft und Licht und sprechen sich darin aus. Die Sprache
erfüllt sich in ihren Gebärden. Ein ausgleichender Atem
entsteht, wenn das Kind sich in seinen Bewegungen mit
den Dingen der Welt verbindet. Über allem stehen die große Lebensfreude und der Tatendrang der Kindheit. Ebenso
bedeutsam wie die Sprache bewegt die Musik die kindliche
Gestalt mit Rhythmen, Melodien und Harmonien.
Spannungen lösen sich in Übergänge auf, Streckung und
Exaktheit geben Stärke und Sicherheit, Zusammenklänge
vieler Stimmen lassen harmonisches Miteinander erleben.
Der Mensch, das Menschliche steht hierbei immer im
Mittelpunkt: Wie stehe ich da? Wie bewege ich mich?
Was drücke ich darin aus? Wie nehme ich den anderen
dabei wahr? Was bewege ich – in der Welt?