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verschiedene Gestalten in einer Aussagekraft und Unmittelbarkeit auf, wie man sie eigentlich nur aus dieser
Zeit kennt. Dabei ist der Stil des Nibelungenliedes für den
sich äußerst nüchtern gebenden Zehntklässler erfreulich
annehmbar: unsentimental, bisweilen sogar herb. Fast alle
Reden sind handelnd, ohne gedanklichen Kommentar (man
diskutiert nicht, man tut) – psychologische oder moralische
Motivationen sind wenig schlüssig. Man begegnet also
einer Welt, die folgerichtig, nachvollziehbar, beispielhaft
oder abstoßend ist. Es ist eine Welt ohne Transzendenz,
bzw. die Welt, die bei einzelnen Gestalten noch ins Übersinnliche verweist (Brünhild, Siegfried...), geht unweigerlich
zu Grunde.
Die Schüler haben also die Möglichkeit, auf hoher künstlerischer Ebene Charakterzüge und Handlungsweisen der Figuren innerlich mitzuvollziehen und gleichzeitig die Distanz
zur eigenen Situation zu wahren. Und doch ergeben sich
möglicherweise Denkanstöße oder Orientierungshilfen auf
dem Weg zur eigenen Individualität.
So kann z.B jeder sich prüfen, ob er etwas von der Auflehnung der jungen, etwa 16- jährigen Kriemhild in sich trägt,
die sie ihrer Mutter gegenüber zeigt, als diese ihr ihren
unheilvollen Traum deutet, in der ihr geliebter Falke von
zwei Adlern zerfleischt wird. Oder etwas von der Schwäche,
dem Mitläufertum eines Königs Gunther, der Entscheidungen, seinen Machterhalt betreffend, bereitwillig zustimmt,
der aber seelisch nicht in der Lage ist, ihre Konsequenzen
zu tragen. Oder etwas von der strategischen Klugheit eines
Hagen, der mit kühler Berechnung seine Pläne rücksichtslos
verfolgt, der aber auch durch seine bedingungslose Treue
einer Sache, der Fürsorge seinen Freunden gegenüber,
besticht. Und als Siegfried, der Götterliebling, der allen vertrauensselig, unbefangen und stets hilfsbereit gegenübertritt, der seine überragenden Fähigkeiten selbstverständlich
für Andere einsetzt, kaltblütig ermordet wird, kann jeder
insgeheim spüren, dass auch er diesen Siegfried in sich
verlieren wird. Denn mit ihm geht quasi die ganze verbindliche, »paradiesische« Welt unweigerlich zu Grunde.
Und doch – während die germanische Welt in ihrer Unbedingtheit untergeht, zeigen sich am Ende des Liedes
Figuren, die über diese Welt des Blutvergießens hinausweisen. Da ist zum einen Ruediger von Bechlarn zu nennen, der
beiden befeindeten Lagern gegenüber eine Verpflichtung
eingegangen ist, sodass jeder mit seiner Hilfe rechnet. Dadurch gerät er in einen verzweiflungsvollen Zwiespalt und
geht so weit, dass er alles, was er an Besitztum hat, zurückgeben will, nur um sich von jeglicher B