Festschrift Jubiläum 25 Jahre | Page 23

23 verschiedene Gestalten in einer Aussagekraft und Unmittelbarkeit auf, wie man sie eigentlich nur aus dieser Zeit kennt. Dabei ist der Stil des Nibelungenliedes für den sich äußerst nüchtern gebenden Zehntklässler erfreulich annehmbar: unsentimental, bisweilen sogar herb. Fast alle Reden sind handelnd, ohne gedanklichen Kommentar (man diskutiert nicht, man tut) – psychologische oder moralische Motivationen sind wenig schlüssig. Man begegnet also einer Welt, die folgerichtig, nachvollziehbar, beispielhaft oder abstoßend ist. Es ist eine Welt ohne Transzendenz, bzw. die Welt, die bei einzelnen Gestalten noch ins Übersinnliche verweist (Brünhild, Siegfried...), geht unweigerlich zu Grunde. Die Schüler haben also die Möglichkeit, auf hoher künstlerischer Ebene Charakterzüge und Handlungsweisen der Figuren innerlich mitzuvollziehen und gleichzeitig die Distanz zur eigenen Situation zu wahren. Und doch ergeben sich möglicherweise Denkanstöße oder Orientierungshilfen auf dem Weg zur eigenen Individualität. So kann z.B jeder sich prüfen, ob er etwas von der Auflehnung der jungen, etwa 16- jährigen Kriemhild in sich trägt, die sie ihrer Mutter gegenüber zeigt, als diese ihr ihren unheilvollen Traum deutet, in der ihr geliebter Falke von zwei Adlern zerfleischt wird. Oder etwas von der Schwäche, dem Mitläufertum eines Königs Gunther, der Entscheidungen, seinen Machterhalt betreffend, bereitwillig zustimmt, der aber seelisch nicht in der Lage ist, ihre Konsequenzen zu tragen. Oder etwas von der strategischen Klugheit eines Hagen, der mit kühler Berechnung seine Pläne rücksichtslos verfolgt, der aber auch durch seine bedingungslose Treue einer Sache, der Fürsorge seinen Freunden gegenüber, besticht. Und als Siegfried, der Götterliebling, der allen vertrauensselig, unbefangen und stets hilfsbereit gegenübertritt, der seine überragenden Fähigkeiten selbstverständlich für Andere einsetzt, kaltblütig ermordet wird, kann jeder insgeheim spüren, dass auch er diesen Siegfried in sich verlieren wird. Denn mit ihm geht quasi die ganze verbindliche, »paradiesische« Welt unweigerlich zu Grunde. Und doch – während die germanische Welt in ihrer Unbedingtheit untergeht, zeigen sich am Ende des Liedes Figuren, die über diese Welt des Blutvergießens hinausweisen. Da ist zum einen Ruediger von Bechlarn zu nennen, der beiden befeindeten Lagern gegenüber eine Verpflichtung eingegangen ist, sodass jeder mit seiner Hilfe rechnet. Dadurch gerät er in einen verzweiflungsvollen Zwiespalt und geht so weit, dass er alles, was er an Besitztum hat, zurückgeben will, nur um sich von jeglicher B