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Das Nibelungenlied –
Ein Beitrag zum Deutschunterricht in Klasse 10
Immer wieder
geschieht es, dass
die Frage an einen
herangetragen
wird, weshalb das
Nibelungenlied im
Lehrplan der 10. Klasse der Waldorfschule
seinen festen Platz
hat. Die folgenden
Ausführungen
mögen als Versuch
gesehen werden, dies
näher zu erläutern.
Vor allem im Hinblick
darauf, dass sowohl
das Thema an sich als auch die Art seiner Darstellung eng
mit der Lebenssituation eines Zehntklässlers verknüpft ist.
Gleich in der Eingangsstrophe, der sogenannten 1. Aventiure
des Nibelungenliedes, erklingen wie mächtige Paukenschläge einer Ouvertüre die unheilvollen, düsteren Töne des
Untergangs. In dreifacher Steigerung ist vom Tod die Rede
– vom Tod eines Einzelnen, der den Tod ganzer Heere nach
sich ziehen wird. Und so wird der Blick einem modernen
Theaterstück gleich von vorne herein nicht auf den Inhalt,
das Was, sondern auf die innere Haltung, das Wie gelegt,
die man einer unabänderlichen Situation gegenüber einnehmen wird.
Die Situation, in der sich entwicklungsbedingt ein Zehntklässler befindet, ist damit gut vergleichbar. Das Ende einer
Entwicklungsstufe, das Ende der Kindheit ist erreicht. Dafür
sind nicht nur äußerlich die physiologischen Vorgänge des
Gestaltwandels Ausdruck, durch die die Leichtigkeit des
Kindhaften immer mehr verschwindet, sondern auch im
Seelisch-Geistigen lässt sich immer mehr eine Persönlichkeit erahnen, die eigene, unverwechselbare Züge des
Individuellen trägt. Damit diese Individualität den in sich
spürbaren Veränderungen Raum geben kann, muss sie sich
quasi eine neue Lebensgrundlage schaffen. Dabei kann das
Bedürfnis entstehen, sich unter Umständen recht radikal
von all dem, was einen bisher geprägt hat, loslösen zu wollen. So kann die Zugehörigkeit zur eigenen Familie, zu einer
Gruppe, einer Religion, einem ganzen Kulturraum oder
einer gesellschaftspolitischen Gesinnung in Frage gestellt
werden. Man ist auch nicht mehr so leicht ansprechbar für
die geistigen Hintergründe einer Sache und beschränkt sich
lieber auf äußerlich Greifbares. Eine Welt, die durchschaubar, nachprüfbar ist, der klare Gesetze zu Grunde liegen,
ermöglicht eher Orientierung - aber man fühlt sich einer
Welt ohne Transzendenz auch ausgeliefert. Die neu gesuchte Lebenswirklichkeit lässt jedoch zunächst die bisher
fraglos hingenommenen äußeren und inneren Zusammenhänge vermissen. Langjährige Freundschaften haben
unter Umständen keinen Bestand mehr – man ist selbst ein
Anderer geworden – auch wenn das den besten Freunden
entgangen sein mag. Existenzielle Grenzsituationen können entstehen, die vielleicht mit bitteren Einsamkeitsgefühlen einhergehen, da man sich – verletzlicher geworden
– schützen und deshalb abgrenzen muss...
Auf diese menschenkundliche Situation des Zehntklässlers »antwortet« der Lehrplan des Deutschunterrichts der
Waldorfschule unter anderem mit dem Nibelungenlied.
In gewaltigen Bildern tauchen in 39 Strophen (Aventiuren)