Festschrift Jubiläum 25 Jahre | Page 22

22 Das Nibelungenlied – Ein Beitrag zum Deutschunterricht in Klasse 10 Immer wieder geschieht es, dass die Frage an einen herangetragen wird, weshalb das Nibelungenlied im Lehrplan der 10. Klasse der Waldorfschule seinen festen Platz hat. Die folgenden Ausführungen mögen als Versuch gesehen werden, dies näher zu erläutern. Vor allem im Hinblick darauf, dass sowohl das Thema an sich als auch die Art seiner Darstellung eng mit der Lebenssituation eines Zehntklässlers verknüpft ist. Gleich in der Eingangsstrophe, der sogenannten 1. Aventiure des Nibelungenliedes, erklingen wie mächtige Paukenschläge einer Ouvertüre die unheilvollen, düsteren Töne des Untergangs. In dreifacher Steigerung ist vom Tod die Rede – vom Tod eines Einzelnen, der den Tod ganzer Heere nach sich ziehen wird. Und so wird der Blick einem modernen Theaterstück gleich von vorne herein nicht auf den Inhalt, das Was, sondern auf die innere Haltung, das Wie gelegt, die man einer unabänderlichen Situation gegenüber einnehmen wird. Die Situation, in der sich entwicklungsbedingt ein Zehntklässler befindet, ist damit gut vergleichbar. Das Ende einer Entwicklungsstufe, das Ende der Kindheit ist erreicht. Dafür sind nicht nur äußerlich die physiologischen Vorgänge des Gestaltwandels Ausdruck, durch die die Leichtigkeit des Kindhaften immer mehr verschwindet, sondern auch im Seelisch-Geistigen lässt sich immer mehr eine Persönlichkeit erahnen, die eigene, unverwechselbare Züge des Individuellen trägt. Damit diese Individualität den in sich spürbaren Veränderungen Raum geben kann, muss sie sich quasi eine neue Lebensgrundlage schaffen. Dabei kann das Bedürfnis entstehen, sich unter Umständen recht radikal von all dem, was einen bisher geprägt hat, loslösen zu wollen. So kann die Zugehörigkeit zur eigenen Familie, zu einer Gruppe, einer Religion, einem ganzen Kulturraum oder einer gesellschaftspolitischen Gesinnung in Frage gestellt werden. Man ist auch nicht mehr so leicht ansprechbar für die geistigen Hintergründe einer Sache und beschränkt sich lieber auf äußerlich Greifbares. Eine Welt, die durchschaubar, nachprüfbar ist, der klare Gesetze zu Grunde liegen, ermöglicht eher Orientierung - aber man fühlt sich einer Welt ohne Transzendenz auch ausgeliefert. Die neu gesuchte Lebenswirklichkeit lässt jedoch zunächst die bisher fraglos hingenommenen äußeren und inneren Zusammenhänge vermissen. Langjährige Freundschaften haben unter Umständen keinen Bestand mehr – man ist selbst ein Anderer geworden – auch wenn das den besten Freunden entgangen sein mag. Existenzielle Grenzsituationen können entstehen, die vielleicht mit bitteren Einsamkeitsgefühlen einhergehen, da man sich – verletzlicher geworden – schützen und deshalb abgrenzen muss... Auf diese menschenkundliche Situation des Zehntklässlers »antwortet« der Lehrplan des Deutschunterrichts der Waldorfschule unter anderem mit dem Nibelungenlied. In gewaltigen Bildern tauchen in 39 Strophen (Aventiuren)