BIG PICTURE digital 06/2015 | Page 35

Birdman Ein ehemaliger Superheldendarsteller spielt einen ehemaligen Superhelden­ darsteller, der vor seinem Broadway-Comeback durchgeknalltes Theater durchleben muss: ein doppelbödiger Wahnsinns-Trip aus der (verdienten) Oscar-Liga! O b er im Schneidersitz in seiner Garderobe schwebt oder per Telekinese Dinge an die Wand schleudert: Die Superkräfte aus drei lang vergangenen „Birdman“-Filmen haben sich fest in die Hirnwindungen von Schauspieler Riggan Thomas (Michael Keaton) eingebrannt, der gerade am Broadway an der Inszenierung einer Raymond-Carver-Geschichte arbeitet. Je näher die Premiere rückt, desto katastrophaler wird die Lage. Die Finanzierung bröckelt, die wichtigste Zeitungskritikerin der Stadt droht mit einem Verriss, der neue Star Mike Shiner (Edward Norton) treibt mit seinen Entgleisungen das halbe Ensemble in den Wahnsinn. Bei Riggan liegen die Nerven derart blank, dass sein heldenhaftes zweites Ich immer öfter übernehmen muss. Alejandro González Iñárritu, mit episodenhaften Meisterwerken wie „21 Gramm“ oder „Babel“ sonst im tragischen Bereich unterwegs, hat sich bei seinem schwarzhumorigen Exkurs selbst übertroffen. Die Inszenierung (fast) ohne sichtbare Bildschnitte überträgt die Anspannung des Theater-Live-Betriebs gekonnt auf die Zuschauer, die er mit oft spektakulären Kamerafahrten durch ein wuselndes Backstage-Labyrinth leitet, gern auch mal an dem direkt ins Bild eingebundenen Drummer Antonio Sánchez vorbei, der das Geschehen mit pulsierenden Beats untermalt – abgefahren! Dieser spielerische und ironische Umgang mit den Realitäts­ benen e zieht sich durch die gesamte Handlung. Hat Riggan wirklich übermenschliche Kräfte? Tragen die Schauspieler gerade ihr Stück vor, oder gehören diese Szene und jener Dialog ins „wahre Leben“? Ist nicht immer sonnenklar. Wer deshalb einen anstrengenden Arthouse-Marathon befürchtet, liegt aber erfreulich falsch. Mit jedem Kameraschwenk wechseln sich ätzend scharfe Dialoge, beißender Spott und lakonische Gags ab, während Michael Keaton die unbestritten beste Leistung seiner langen Karriere abliefert. Aber auch seine Co-Stars wie Edward Norton oder Emma Watson legen eine mitreißende Spielfreude an den Tag – vielleicht gerade wegen der hohen Anforderungen beim Drehen der extrem langen Einstellungen. Respekt: Die Tour de Force hat sich gelohnt! [ga] Fazit: Absurdes (Helden-)Theater, stilprägende Kino-Innova­ tion, selbstkritische Mediensatire – ein vor lauter schräger Ideen nur so aus den Fugen platzender Spaß mit Kultpotenzial OT: Birdman, USA 2014 R: Alejandro González Iñárritu D: Michael Keaton, Zach Galifianakis, Edward Norton, Andrea Riseborough, Amy Ryan, Emma Stone FSK: 12 Jahre L: 115 Minuten Anbieter: Fox Ab 11. Juni 2015 auf DVD und Blu-ray Wertung ✪✪✪✪✪ big-picture-magazin.de 35