+3 Magazin Juni 2019 | Page 14

+3 14 WIR FRAGEN: WIE MODERN IST TRADITION? ... und was ist Ihre Meinung? www.plus-drei.de [email protected] Über das Jahr verteilt finden in Deutschland mehr als 9.750 Volksfeste statt, die von rund 190 Millionen Menschen aus aller Welt besucht werden. Quelle: Deutscher Schaustellerbund Max Raabe, Sänger und Gründungsmitglied Palast Orchester Berlin Zeitlos schön Für mich ist die Musik der 1920er- Jahre nach wie vor modern. Wenn ich mit dem Palast Orchester ein empfindsames Stück aus dieser Epo- che aufführe, berührt es das Publi- kum auch heute noch, ohne dass ich die Pointe übersetzen muss wie etwa eine Anekdote aus dem Mittelalter. Darüber hinaus schreibe ich mit Pop- fachkräften wie Annette Humpe oder den Jungs von Rosenstolz eigene Stü- cke, die diese Haltung, Geschichten zu erzählen, in die Gegenwart tragen. Das Spannende dabei ist: Es gibt kei- nen Bruch zwischen traditionell und modern. Wie gut alle Stücke harmo- nieren, konnten wir eben erst bei un- serer MTV-unplugged-Aufzeichnung feststellen. Unsere Gäste wie Nami- ka, LEA, Samy Deluxe, Lars Eidinger und Herbert Grönemeyer haben je- weils ihre eigenen, sehr persönlichen Interpretationen aus Liedern unseres Archivs gestaltet. Pawel Popolski be- weist beispielsweise stichhaltig, dass „Kein Schwein ruft mich an“ eigent- lich eine Polka ist. Oft sind es auch Abwandlungen, die für Abwechslung sorgen. Der größte Teil unseres Re- pertoires stammt aus der Zeit der Weimarer Republik. Heute haben wir den Luxus, das Beste aus dieser Epoche aussuchen zu können, denn es hat auch in dieser Zeit schlechte Kopien und banale Plattitüden ge- geben. Doch darunter gibt es einen enormen Schatz, den man nur heben muss. Hoffentlich entwickelt sich da- raus eine Tradition, sodass auch fol- gende Generationen von Musikern diese Ära auf die Bühne bringen. © iStock./atlantic-kid Hans Peter Wollseifer, Präsident Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) Brücke in die Zukunft Viele Menschen verbinden mit Hand- werk im besten Sinne Tradition. Sie denken an Frauen und Männer, die mit ihren Händen etwas aus Holz, Stein, Stoff oder Mehl erschaffen. Das hat etwas Ursprüngliches und Alther- gebrachtes, eben Traditionelles. Wenn also das Handwerk für Tradition steht, dann scheint mir: Tradition ist Trend. Die Sehnsucht der Menschen nach ihren Wurzeln, nach Identität, Indi- vidualität und Originalität drückt sich im Do-it-yourself-Hype aus. Sie nähen Kleider, schleifen Kommoden ab und streichen Wände. Oft mithilfe von You- tube-Tutorials. Denn: Woher sollen sie es können, wenn es an Schulen keinen Werkunterricht mehr gibt? Und wenn Eltern nicht mehr mit ihren Kindern heimwerken? Bei aller Traditions- verbundenheit wandelt sich auch das Handwerk gewaltig. Technologischer Fortschritt und Digitalisierung prägen heute unsere Gewerke. Drohnen von Dachdeckern fliegen zur Schadensauf- nahme über die Dächer. Roboter und CNC-Fräsen kommen in Tischlereien zum Einsatz. 3D-Scanner formen in Orthopädiewerkstätten passgenaue Gliedmaßen ab. Dabei passt sich das Handwerk nicht allein dem Fortschritt an, es befördert ihn auch und macht ihn vielfach erst möglich. Es wird keine Energiewende und höhere Gebäude- effizienz ohne Heizungs- und Klima- installateure geben, kein Smart Home ohne Elektroniker und keine Mobili- tätswende ohne Kfz-Mechatroniker. Tradition ist mehr als ein Relikt aus der Vergangenheit. Tradition schlägt die Brücke in die Zukunft.