Sonntagsblatt 4/2015

S onntagsblatt Nr. 4/2015 Gegründet von Dr. Jakob Bleyer im Jahre 1921 Informationen, Meinungen MOTTO Neue Besen kehren gut, aber sie langen nicht in die Ecken Hausspruch aus Wudersch/Budaörs WINDSTILLE Noch vor einigen Wochen läuteten die Glocken der Nationa litäten Ungarns Sturm. Man fühlte sich – berechtigt! – beleidigt. Unser Ministerpräsident hatte am 19. Mai in Straßburg Aussagen ge - macht, die das Ehrgefühl der Nationalitäten schädigten. Er sprach über das Migrantenproblem und ereiferte sich dabei zu Aussagen, laut derer „wir nie eine multikulturelle Gesellschaft gewesen seien”. Er sprach sich nämlich dafür aus, dass es „ein nicht aufzuopfernder Wert sei”, dass Ungarn ein homogenes Land ist, welches in seiner Kultur, Mentalität, in seinen Zivilisa tions bräuchen ein ziemlich ein- heitliches Bild zeigt, sowie, dass Ungarn als ein ungarisches (gemeint madjarisches!) Land bewahrt werden soll. Die Dickköpfigen in Straßburg haben sich nicht daran gestoßen, schließlich haben sie wenig Ahnung über Ungarns Geschichte und hinsichtlich des jetzigen Migrantenzustroms ist die Aussage in sol- cher Hinsicht auch nicht zu bezweifeln. Aber zuhause wurde man argwöhnisch. Die Nationalitäten sahen sich übergangen, ihr Da - sein geleugnet. Über das darauf folgende Geschehen berichten wir im folgen- den Beitrag auf Seiten 2. Die Nationalitäten wollten ihren Ministerpräsidenten über ihren Sprecher im ungarischen Parlament zur Rede stellen. Doch Herr Orbán ist ausgewichen. Die Fragen von Herrn Ritter wurden von Staatssekretär Rétvári beantwortet. Als unhöflich und undiplomatisch kann das Ausweichen Orbáns gewertet werden. Er selber hätte seine Worte erklären und vertei- digen oder sich für den Ausrutscher entschuldigen sollen. Die von Rétvári gedolmetschte Erklärung hinkt, noch dazu sehr. Unser Sprecher, Emmerich Ritter gab sich mit der Antwort grundsätzlich zufrieden, jedoch ist er der Meinung, dass es unbe- dingt notwendig gewesen sei, die Aufmerksamkeit der Öffentlich- keit und der Politiker auf die Existenz der Nationalitäten zu rich- ten: „Viktor Orbán hätte in seiner Rede in Straßburg zumindest mit einem kurzen Satz darauf hinweisen können, dass Ungarn nicht nur den Madjaren, sondern auch den hier lebenden Nationalitäten ge - hört, dadurch hätten jegliche Missverständnisse und Missdeutun gen vermieden werden können! Wir sind nämlich keine Madjaren, und wollen das auch nicht sein. Wir haben nämlich beispielsweise deut - sche, serbische, kroatische, slowenische Identität. Mit meiner Frage wollte ich keineswegs auf die Behandlung der Problematik der Migra - tion hindeuten, sondern vielmehr die Politiker darauf aufmerksam machen, dass sie künftig Rücksicht auf die im Lande lebenden Nicht - madjaren nehmen, und dass sie darauf achten, dass ungenauen Formulierungen keine weitere Missverständnissen zugrunde liegen.” Jakob Bleyer Gemeinschaft e.V. Der Vorsitzende der Landesselbstverwaltung der Ungarndeut - schen, Herr Otto Heinek, gab seiner Unzufriedenheit mit klaren Worten Ausdruck: „Ich bin der Überzeugung, dass diese Frage der Ministerpräsident persönlich hätte beantworten müssen, er selbst hätte klären müssen, woran er genau gedacht hat. Mit der Art und Weise der Antwort bin ich also nicht zufrieden. Und mit dem Inhalt auch nur zu einem geringen Teil, denn dieser enthielt eine geschichtlich und soziologisch falsche Interpretierung der Multikulturalität, weiterhin begnügte man sich mit der Aufzählung der Verfassungsprinzipien. Ich habe erwartet, dass man zumindest gesteht, ungenau formuliert zu haben, und dass man sich entschuldigt, wenn eventuell Menschen mit diesen Äußerungen beängstigt worden sind. Auch dieser Fall demonstriert, dass es in Ungarn bezüglich der Schätzung, der Handhabung, der Integration und Akzeptanz der unterschiedlichen ldentitäten, Kultu - ren immer noch viel zu tun gibt”. Inzwischen sind wir Mitte im Sommer. Hitze und Urlaub. Der Aufruhr wegen Orbáns Äußerung überwunden und – wie es scheint – bereits vergessen. Unsere amtlichen ungarndeutschen Medien haben dazu nichts zu berichten. Völlige Windstille. Scha - de. Denn eine wirkliche Aufklärung des Sachverhalts ist ausge- blieben. Wir Ungarndeutsche sind aber auch so ruhig und zufrie- den… Wie immer. Etwas Geschichte zum Thema: War und ist Ungarn multikulturell und multiethnisch? Eine Erklärung als Antwort: …Das historische Ungarn, war von Anfang an (von der Staats - gründung unter Stefan dem Heiligen an) ein Vielvölkerstaat. Mit vielen verschiedenen Menschen, Sprachen und Kulturen. Der Vielvölkercharakter hat sich mit der Zeit noch verstärkt und ist nach dem anderthalb Jahrhundert der türkischen Herrschaft bestimmend geworden. Die nach dem Vertreiben der Türken im 18. und teilweise im 19. Jahrhundert stattgefundene mächtige Völkerbewegung hat die Proportion der Ungarn (gemeint: Mad - jaren – die Red.) weiter vermindert. Der ersten, 1784–1787 auf Verordnung von Josef dem II. durchgeführten ungarländischen Volkszählung nach hatte Ungarn (Siebenbürgen inbegriffen und die südliche Militärgrenze dazugerechnet) insgesamt ca. 8 170 000– 8 180 000 Einwohner (angenommen ohne Kroatien. Bem. d. Red.). Die ungarische (madjarische! – die Red.) Bevölkerung mach te davon nur noch etwa 3–3,5 Millionen aus. Das Madja - rentum ist also in seinem eigenen Land stets in Minderheit gewe- sen und stand bis Ende des 1. Weltkrieges einer Nationalitä - tenmehrheit gegenüber… (In J.V. Senz: Geschichte der Donau - schwaben). Die 200 Jahre anhaltende (teils gewaltsame) Madjarisierung erbrachte dem madjarischen Volksanteil beträchtlichen Zuwachs und erst durch den Friedensspruch von Trianon wurde das Land Ungarn zu 90% madjarisch – doch noch immer nicht „homogen”. Georg Krix